Hallo, ich studiere Medizin. Leider habe ich des öfteren die Erfahrung gemacht, dass bei praxisbezogenen Praktikas, wie Untersuchungskursen, Venenpunktionskursen, usw., unterschwellig ein Druck aufgebaut wird, seinen Körper zur Verfügung zu stellen, obwohl immer wieder betont wird, dass das ja alles freiwillig sei. Unter anderem kam es beim gegenseitigen Blutabnehmen zu einer Situation, bei der sich ein Student, der sich nicht Blut abnehmen lassen wollte, von dem zuständigen Lehrarzt so lange unter Druck gesetzt wurde, bis er schliesslich zustimmte. Teils folgten dann auch noch Kommentare von anderen, er solle sich doch nicht so anstellen.
Ich weiss, dass es für viele Leute einfach dazugehört, dass angehende Mediziner auch am eigenen Leib erleben, was für die Patienten unangenehm ist - auch, um an der eigenen Empathie zu arbeiten und die teils sehr trockenen Vorlesungseinheiten aufzulockern. Ausserdem ist es natürlich ganz ein anderes Lernen, wenn man eine klinische Intervention auch einmal selbst erfahren kann und gerade der professionelle Umgang mit Nacktheit und der eigenen Scham kann sehr gut trainiert werden. Trotzdem finde ich es sehr problematisch, da so einen subtilen Zwang auszuüben; gerade, weil doch das Erkennen und Wahren der eigenen Grenzen so wichtig im späteren Arztberuf ist. Ausserdem: Wie soll ein Arzt die Grenzen des Patienten wahren und respektieren, wenn er im Studium mitbekommt, dass bei ihm und anderen einfach so lange Druck aufgebaut wird, bis zugestimmt wird? Und weil es ja gerade im Studium bereits so wichtig ist, einen professionellen Umgang mit Nacktheit zu erlernen, ist so ein Druck doch gerade kontraproduktiv, da er die Scham einfach nur noch steigert?!
Ich habe selbst erlebt, wie unangenehm es ist, sich nicht ausziehen zu wollen und dann komische Blicke zu ernten, auch weil das Ausziehen untereinander oft als Transaktion betrachtet wird: Ich habe mein Shirt ausgezogen und mich dir zur Verfügung gestellt, also erwarte ich das Gleiche von dir. Ich verstehe das gut, aber genau deshalb halte ich mich bei Praktikas, bei denen ich weiss, dass ich mich nicht zur Verfügung stellen möchte, auch immer zurück und lasse die anderen untersuchen.
Das klingt jetzt vielleicht so, als würde mein Studium nur aus Untersuchungskursen bestehen, obwohl es vielleicht gerade mal vier Kurse gab im letzten Jahr, in dem wir an uns selbst lernen durften/mussten. Aber trotzdem beschäftigt mich das sehr, besonders, weil ich das Gefühl habe, dass ich der einzige bin, der sich so stört an der ganzen Sache. Viele meinen dazu einfach, klar stört es sie manchmal, sich teilweise so präsentieren zu müssen, aber so sei es halt einfach. Ich hingegen halte es für eine Doppelmoral meiner Uni, sich gegen Belästigung und Zwang aller Art im Studium einzusetzen und dann trotzdem so einen unterschwelligen Druck aufzubauen, seine eigenen Grenzen zu überschreiten.
Meiner Meinung nach gilt Selbstbestimmung und körperliche Autonomie sowohl für Patienten als auch für medizinisches Personal und ich sehe nicht ein, wie die körperliche Autonomie von Patienten geschützt werden kann, wenn man nicht mal selbst weiss, wie man seine eigene effektiv schützt. Was denkt ihr dazu?
Unsere Antwort
Da hast du offensichtlich sehr wichtige Erfahrungen gemacht, die deine Haltung prägen. Dir ist es besonders wichtig, dass Einvernehmlichkeit herrscht in der Arzt-Patient*innen-Beziehung. Es fällt dir negativ auf, wie diese Interaktion gehandhabt wird und deines Erachtens entspricht das nicht den Werten, die sich die Uni vornimmt.
Nun ist die Frage, wie du mit dieser Erkenntnis umgehen möchtest. Du sagst, du bist allein mit deiner Haltung. Ich könnte mir vorstellen, dass das nicht stimmt. Es gibt mit Sicherheit deutsch- oder englischsprachige Gruppen, die sich mit einer Consent-Kultur im medizinischen Bereich auseinandersetzen, die großen Wert auf Selbstbestimmung legt. Schau doch mal, wo du Gleichgesinnte finden kannst.
Die Erfahrungen können ein Anstoß dafür sein, womit du ganz persönlich dich weiter beschäftigen möchtest. Du kannst dein Verhalten unabhängig von den Rahmenbedingungen an dem ausrichten, was dir wichtig ist. Die Reaktionen anderer darauf sind nicht zwangsläufig positiv.
Es könnte ebenfalls interessant sein, dir zu überlegen, wie du mit Menschen reden kannst, um ihnen deine Sicht der Dinge näher zu bringen. Welche Beispiele könnten für sie relevant sein? In welchen Punkten könnten sie dir am ehesten zustimmen?
Du könntest dir ebenfalls überlegen, wie du zu einer lernfähigen Uni beitragen kannst. Es kann schwierig sein, den eigenen Werten treu zu sein, besonders wenn es alte Traditionen gibt, die diesen Werten entgegen stehen. Es braucht dann Personen wie dich, um diese Werte hochzuhalten und einen Beitrag zu leisten, dass eine Entwicklung in Gang kommt in Richtung dieser Werte. Wer in der Uni könnte Einfluss darauf nehmen, und wie kannst du mit diesen Personen oder Gruppen in Kontakt treten?
Schau doch mal, wie diese Gedankenanregungen bei dir ankommen.
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