Hallo liebes Lilli Team, ich habe eine Frage Richtung Psychologie:
Ich (w, 31) bin seit 3 Jahren in einer ganz guten festen Beziehung zu einem Mann, mein Alter. Nun habe ich einige Lebensjahre auf dem Buckel und dennoch merke ich aktuell etwas neues an mir: Ich bin neidisch auf meinen Freund, der viele Freunde und Hobbies hat, wenig daheim ist (wir wohnen in jeweils eigenen Wohnungen), immer Sachen macht und tut. Ich hingegen, will erstmal idR heim nach der Arbeit, mich etwas ausruhen und Essen. Aber danach...ist Leere. ich weiß nicht viel mit mir anzufangen und habe weniger aktive Freundschaften.
Das war immer so, aber seit ich meinen Partner und einen direkten Vergleich habe, fühle ich mich langweilig und habe das Gefühl, ich kenne micht nicht richtig und verschlafe mein Leben. Ich weiß, dass dies kein Problem von meinem Partner ist. Das ist ein Problem in mir. Ohne diesen Vergleich wäre mir das wohl nicht aufgefallen und ich bin richtig richtig unzufrieden und gereizt dadurch. Ich weiß aber einfach nicht...wie ich mich kennenlernen soll. Wie geht das?
Ich war mein Leben lang immer sehr auf Zustimmung von Außen bedacht, weil ich mich selbst so unsicher und wertlos fühlte. Dies wird nun zum GLÜCK mit dem Alter besser, aber.... wer bin ich und vor allen Dingen: wie finde ich das heraus? Ohne das ich mich von Außen beeinflussen lasse. Ich habe das glaube ich nie gelernt. Wie findet man wirklich heraus, wer man selbst ist, was man will, was einem Spaß macht, was die eingenen Werte und Ziele sind etc? Die ganze Umwelt ( Arbeit, Freunde, Freund, Familie und die gesellschaft generell) wirkt ja immer auf einen ein und möchte einen "so oder so" haben. Und ich habe Angst einige Menschen zu verlieren und...biege mich etwas zu sehr mit.
Also: Wie bekommt man es hin, im Alltag (also nicht alleine auf einer schönen , einsamen Insel über Jahre hinweg) sich selbst zu entdecken und wirklich seine eigenen Werte, Ziele, Emotionen zu endecken?
Danke !
Unsere Antwort
Du stellst eine wirklich tiefsinnige Frage. Schon allein darauf, dass du sie dir stellst, kannst du stolz sein, denn zu viele Menschen tun das nie.
Zunächst einmal möchte ich dir ein wenig den Druck nehmen in Bezug auf das Konzept des „wahren Ichs“. Denn es gibt kein Ich, das nicht durch dein bisheriges Leben geprägt ist. Das heißt, die Einflüsse aus deiner Umwelt, die du nennst, musst du nicht rausrechnen oder ausblenden. Wir alle sind geformt durch unsere Umwelt. Ja, einige Dinge sind angeboren, aber Sachen wie Werte, Ziele, Interessen – das formt sich im Laufe des Lebens, und zwar durch unsere Interaktion mit der Umwelt. Kein Mensch existiert in einem Vakuum – zum Glück! Denn wir sind sehr soziale Wesen und brauchen andere, die uns spiegeln und uns inspirieren.
Du hast aber natürlich recht, dass man sich zu stark auf die Zustimmung von anderen fokussieren und dadurch das Gefühl für sich selbst verlieren kann. Und ja, dieses Gespür für sich selbst kann tatsächlich ziemlich leise gedreht werden, wenn man das auf Dauer macht. Es ist aber nicht weg. Du kannst es wieder laut drehen. Dafür musst du nur den Lautstärkeregler finden. Hier sind ein paar Tipps, die dabei helfen können:
1) Journaling: Schreib deine Gedanken und Gefühle auf. Schreiben ist eine sehr wertvolle Tätigkeit, die uns hilft, Emotionen zu erkennen und zu verarbeiten. Außerdem kannst du so deine Reise nach innen dokumentieren und hast immer vor Augen, wie weit du schon gekommen bist. Nimm dir vielleicht morgens und abends Zeit für einen kurzen Check-in mit dir selbst. Was fühlst du? An was denkst du? Was spürst du körperlich? Vielleicht hilft es dir, dafür jeweils eine kleine Achtsamkeitsmeditation zu machen. Anleitungen dafür findest du im Internet.
Es kann sein, dass dir für den Gefühlsteil momentan noch ein bisschen die Vokabeln fehlen. Dann empfehle ich dir sehr, mal eine Gefühlsliste im Internet zu suchen und sie beim Check-in zu nutzen. Das macht es leichter, passende Worte für deine Gefühle zu finden. Beim abendlichen Check-in kannst du noch hinzufügen, was am heutigen Tag gut war: Was hat dir Freude gemacht? Wann hast du dich kompetent, entspannt oder lebendig gefühlt? So bekommst du nach und nach ein Bild von den Dingen, die wichtig und wohltuend für dich sind.
2) Hör deinen Gefühlen zu: Durch das Journaling bekommst du einen besseren Draht zu deinen Gefühlen. Im nächsten Schritt kannst du schauen, was sie dir sagen wollen. Denn Gefühle sind Wegweiser. Sie zeigen dir, ob deine Bedürfnisse (Werte, Anliegen) erfüllt oder verletzt sind. Neid ist dabei oft ein besonders hilfreiches Gefühl, denn es zeigt genau dahin: auf etwas, was wir wollen, aber nicht haben. Folge mal dem Neid auf deinen Partner. Wo genau zeigt er hin? Auf die Freundschaften? Die Hobbys? Den Spaß? Das Lebensgefühl?
3) Mach Gedankenexperimente: Stell dir zum Beispiel vor, es ist dein 100. Geburtstag, und all deine geliebten Menschen sind bei dir. Was möchtest du sehen, wenn du auf dein Leben zurückblickst? Wofür willst du stehen? Was sollen die Menschen an dir schätzen? Solche Fragen führen dich näher ran an deine Werte und Ziele. Vielleicht sind deine Ideen dazu noch sehr vage. Das ist in Ordnung. Mit der Zeit werden sich Dinge klarer herauskristallisieren, wenn du am Ball bleibst.
4) Frag andere: Frag deinen Partner, deine Freund*innen, deine Familie, was sie an dir schätzen. Sprichst du mit deinem Partner über diese Gefühle von Neid? Er könnte eine wichtige Ressource sein für dich. Frag ihn, wie er zu seinen Hobbys gekommen ist. Frag ihn, wie er sich dabei fühlt und was es ihm gibt, so viel unterwegs zu sein. Sei dir dabei bewusst, dass er ein anderer Mensch ist als du. Es geht nicht darum, so zu werden wie er. Du bist vielleicht introvertierter und brauchst andere Aktivitäten als er, um erfüllt zu sein. Dennoch könnten seine Erfahrungen dir helfen, das für dich herauszufinden.
5) Du sagst, du hast Angst, Personen zu verlieren, wenn du aufhörst, dich ständig zu verbiegen. Ja, das kann passieren. Die Frage ist aber, ob du von diesen Menschen momentan wirklich das bekommst, was du brauchst. Dein Bedürfnis nach Freundschaft, Nähe und Wertschätzung ist völlig normal und menschlich. Aber bekommst du das tatsächlich, wenn du dich den Menschen gar nicht wirklich zeigst? Oder sind sie vielleicht mit einem Scheinbild befreundet? Wie nah kann dir jemand wirklich sein, wenn du nicht authentisch bist? Wie echt fühlt sich Wertschätzung an, wenn sie nur vorgespielte Qualitäten wertschätzt? Mach dir klar: Authentische Menschen sind attraktiv. Das heißt, selbst wenn Leute sich im Laufe dieser Reise von dir abwenden, wirst du neue Menschen finden, die dich für das mögen und schätzen, wie du tatsächlich bist.
6) Die innere Reise, vor der du stehst, wäre sehr gut aufgehoben in einer psychologischen Beratung, einem Coaching oder einer Therapie. Denn dort geht es ja genau um Persönlichkeitsentwicklung und darum, sich selbst kennenlernen. Vielleicht schaust du mal nach Beratungsstellen in deiner Umgebung oder nach Möglichkeiten für Therapie und Coaching.
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