Hi Lilli-Team
Mir (29/m) geht es nicht besonders gut. Ich habe in der Schweiz viele Probleme, z.B. bin ich schon zum vierten Mal arbeitslos und ich habe ständig Stress mit meiner Familie, weil ich noch bei meiner Mutter wohne. Ich bin dann kurzerhand einfach ins Ausland abgehauen, um für mehrere Monate Englisch zu lernen. Am Anfang fand ich das grossartig, ich habe sogar überlegt, mir hier einen Job zu suchen, damit ich nie mehr in die Schweiz zurückkehren muss und zu meiner Familie einfach den Kontakt abbrechen kann, aber inzwischen hat sich eine gewisse Ernüchterung eingestellt und ich habe auch so etwas wie "Heimweh", auch wenn ich nicht genau weiss, warum eigentlich. Weil mein Leben in der Schweiz empfinde ich als bedrückend.
Mir ist in den letzten Wochen einfach bewusst geworden, wie enorm schwierig meine Lebenssituation ist. Ich habe ein chronisches Schmerzsyndrom, also das heisst ich habe immer brennende, drückende Schmerzen an zwei bestimmten körperstellen, mal besser, mal schlimmer. Und ich hatte auch schon sehr viele Untersuchungen, Operationen und Behandlungen. Die längste Behandlung war 6 Wochen am Stück im Spital. Ich habe auch eine Psychotherapie gemacht, um besser mit den Schmerzen klarzukommen. Trotzdem wird es nie wirklich besser, ich fühle mich völlig exhausted. Das ist auch der Hauptgrund, weshalb ich es bis jetzt noch nie geschafft habe, länger als 6 Monate im selben Praktikum/Job zu bleiben. Auch beim Englischlernen ist das ganze einfach ein Problem, an gewissen Tagen - wie z.B. heute - bleibe ich einfach in meinem Zimmer in der Unterkunft im Bett liegen, meine Kräfte reichen für nichts mehr, ich mag nicht mal mehr etwas essen gehen und bin völlig deprimiert. Manchmal bin ich auch einfach still am weinen. Am Wochenende bin ich häufig sehr lange am ausschlafen, bis 12 Uhr mittags. Die anderen machen dagegen Ausflüge und so. Ich hab auch das Gefühl, dass ich an Gewicht abgenommen habe und ich bin ohnehinn eher dünn. Es liegt wohl auch daran, dass ich nicht wirklich gut kochen kann und viel minderwertiges Essen konsumiere, z.B. Mikrowellen-Food. Es ist auch mal passiert, dass ich in der Sprachschule während dem Unterricht eingenickt bin. Das macht mich alles sehr traurig, weil die Lehrer sind ziemlich nett und geben sich Mühe. Dann sagen sie, es sei wichtig, dass man mit Freunden zuhause regelmässig telefoniert und so. Aber ich habe eigentlich keine Freunde in der Schweiz, die Zeit zum telefonieren haben. Und es dauert bei meinen Kollegen häufig schon mal 1-2 Wochen bis sie mir zurückschreiben. Die anderen telefonieren ständig mit ihren Leuten zuhause und ich telefoniere mit überhaupt niemandem. Ich habe versucht, meine Mutter anzurufen, aber sie hat sich geweigert, das Telefon abzunehmen. Wir hatten einen heftigen Streit und jetzt hat sie mich blockiert. Sie möchte mich eigentlich schon länger zuhause rauswerfen... weil sie hat immer wieder Affären mit Typen und ich bin da eher ein Störfaktor. Und meinen Vater habe ich schon seit Jahren nicht mehr gesehen, weil er mit einer jüngeren Frau durchgebrannt ist. Seitdem interessiert er sich leider nicht mehr gross für mich.
Ich selber bin genau das Gegenteil von meinen Eltern, ich hatte noch nie eine richtige Beziehung. Ich habe auch herausgefunden, dass ich schwul bin, oder zumindest bisexuell. Wenn ich einen besonders schönen jungen Mann sehe, bekomme ich sofort Schmetterlinge im Bauch. Aber in meiner Familie wird das nicht wirklich respektiert, es gibt auch immer wieder mal homophobe Sprüche. Meine Eltern verstehen mich nicht. Und ich verstehe meine Eltern nicht mit ihren regelmässigen Affären, Seitensprüngen und Scheidungen.
Es dauert zwar noch ziemlich lange, aber ich habe angst vor der rückkehr in die schweiz. Am liebsten würde ich dort in eine andere Stadt ziehen und mein altes Leben einfach vergessen. Aber ich weiss ganz genau, dass das so einfach nicht funktionieren wird. Ich sehe ja jetzt, wie es ist wenn ich komplett auf mich allein gestellt bin. Das alles macht mir grosse Sorgen.
Habt ihr irgendeinen Tipp für mich, was ich tun kann, damit ich mich wieder mehr aufs Englisch lernen konzentrieren kann? Ich habe 2 englische bücher gekauft und ich würde sie gerne lesen, aber mir fehlt völlig die Kraft dazu.
Unsere Antwort
Du beschreibst eine wirklich schwierige Situation. Wir möchten dir darum gleich zu Beginn unserer Antwort empfehlen, dich wieder in eine Psychotherapie zu begeben. Dort solltest du die verschiedenen Belastungsbereiche erstmal ordnen, damit du sie kennen- und unterscheiden lernst. Wenn du dich in dir selbst besser auskennst, kannst du eigene Strategien erarbeiten, um dein Befinden zu beeinflussen.
Dir hast wichtige Sachen bereits erkannt: eine Flucht ins Ausland ist keine nachhaltige Lösung und schwierige Beziehungen schützen nicht vor Heimweh. Ist es nicht eigenartig? Du fühlst ‚Schmetterlinge in deinem Bauch‘, die dir deine sexuelle Orientierung zeigen. Und sofort denkst du: Meine Familie wird Homo- oder Bisexualität niemals respektierten. Meinst du nicht, dass du deine ganze Kraft brauchst, um deine sexuelle Orientierung zu akzeptieren und Wege für dein sexuelles Leben zu suchen? Das gleiche gilt für deine Schmerzen. Sie brauchen deine Zuwendung und dein Verständnis, damit du dich nicht dauernd völlig erschöpft fühlst. Du möchtest deine Kraft ja für Selbstfürsorge einsetzen, damit du dich wohler fühlst. In all diesen Bereichen könnte dir Psychotherapie helfen. Wenn dir deine Familie nicht genügend viel Verständnis und Fürsorge entgegenbringt, brauchst du Vertrauensbeziehungen ausserhalb der Familie.
Du bist auf dich allein gestellt und brauchst darum eine Unterstützung bei der Entwicklung deiner Eigenständigkeit. Du selbst kannst dies tun, wenn du deine Wahrnehmung auf die Verbesserung deines aktuellen Befindens richtest. Du kannst gut beschreiben, was nicht geht. Achte mal drauf, was geht. Lies zwei Sätze aus deinen neuen Büchern und mach dann eine Pause. Kanntest du alle Wörter? Gab es in den Sätzen etwas Interessantes? Wie geht die Geschichte wohl weiter? Wieviel konntest du dir merken? Wenn du genug geruht hast, liest du weiter. Denk immer wieder an das Gelesene und nicht, wie wenig du lesen kannst oder was sonst alles nicht geht. Mach es dir möglich, deine Gedanken immer wieder zu fokussieren: auf das Lesen, auf das Kochen, auf deine Entwicklung, auf deine Selbstermunterung etc.. Nicht meckern, wenn du nicht so viel leistest, wie du denkst, du müsstest. Deine Vorstellung schätzt deine Leistungsfähigkeit wohl nicht realistisch ein. Eigenständigkeit heisst auch, sich selbst wertzuschätzen - auch wenn die eigene Familie das nicht kann.
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