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Frage Nr. 38763 von 08.09.2024

Hallo liebes Lilli-Team,

Ich (m, 33) merke, dass ich bisweilen sehr gewalttätige Fantasien habe. Aber jetzt nicht im sexuellen Sinne, sondern "einfach so". Manche davon kann ich mir noch erklären, andere nicht. Zwei Beispiele von heute:

a) Ich habe mich daran erinnert, wie ich in der Grundschule von einem Mitschüler gemobbt wurde. Als ich mich damals gewehrt habe, wurde das von der anwesenden Lehrerin als Aggression meinerseits ausgelegt (weil sie das Mobbing vorher ja nicht mitbekommen hatte). In meiner Fantasie habe ich mir nun vorgestellt, diesen Mitschüler später auf dem Heimweg zu überfallen und zu töten [...] Diese Fantasie kann ich mir noch erklären, weil dadurch ja das emotionale Bedürfnis nach Rache und dem Ende einer Demütigung befriedigt wird. Ich frage mich bloß, warum mich das nach so vielen Jahren immer noch beschäftigt; ich dachte, darüber wäre ich schon lange hinweg.

Anschließend hat ein gedanklicher Teil von mir derartige Aktionen (Mord, s.o.) in einer Art Selbstgespräch gerechtfertigt. Das Argument war "wenn du schon Gewalt anwendest, dann so stark und entschieden, dass der andere garantiert keine Möglichkeit hat, zurückzuschlagen, sonst gefährdest du dch nur selbst." Das hat mich dann zu Fantasie Nummer zwei gebracht:

b) In dieser Fantasie war ich Präsident der USA, die kur vor einem Krieg mit dem Iran standen. In der Fantasie habe ich dann damit gedroht, das ganze Land vollständig mit Atombomben zu zerstören. Und das verstehe ich jetzt endgültig nicht mehr. Was geht da vor in meinem Kopf? Ich bin normalerweise ein äußerst friedlicher und rücksichtsvoller Mensch und daran interessiert Konflikte friedlich zu lösen. Diese Seite von mir verabscheue ich. Und sie macht mir ehrlich gesagt auch Angst, denn ich befürchte, dass ich eines Tages tatsächlich mal extrem gewalttätig werden könnte.

Was als Kontext sicherlich wichtig ist, ist, dass ich unter Depressionen leide (schon lange, ca. seit 15 Jahren). Ich war zwei mal in Therapie und nehme seit 2015 Citalopram. Seit Beginn meiner ersten Therapie hat sich mein Leben stark verbessert. Ich habe Erfolgserlebnisse gehabt und viel über mich selbst gelernt. Ich habe allerdings den Eindruck, dass sich der ganze Fortschritt eher auf der "psychischen Oberfläche" eingestellt hat, und ich mich emotional (mir fällt gerade kein besseres Wort dafür ein) immer noch nicht wirklich besser fühle.

Also nochmal kurz zusammengefasst: Was geht da in meinem Kopf vor? Warum habe ich diese extrem gewalttätige Seite an mir? Und wir kann ich mit ihr umgehen, so dass ich diesen Teil weder auslebe noch verabscheue? Und wie verhindere ich, dass ich nicht doch eines Tages mal jemanden angreife?

Vielen Dank für eure Hilfe. Ich wünsche euch eine schöne Woche. :)

Unsere Antwort

Du machst sehr interessante Beobachtungen über dich selbst. Und ich erlebe dich in deinen Beschreibungen als rücksichtsvollen Menschen, der in der Lage ist einzuschätzen, wie sein Verhalten auf andere Menschen wirkt und welches Verhalten angemessen ist. So wie du schreibst, hast du keine Wutausbrüche. Die Wut spielt sich einzig und allein in deinem Kopf ab. Dein Verhalten ist betont friedlich und rücksichtsvoll.

Nun zu deinen Fantasien. Erstmal sind sie ein wunderbares Werkzeug, um dich machtvoll statt hilflos zu fühlen. Viele Menschen kennen gewalttätige Fantasien. Unsere Fantasie eröffnet uns ganz neue Welten und Möglichkeiten. Es ist ein Geschenk, dass du so eine Fantasie zur Verfügung hast.

Ich frage mich, ob du einen spielerischen Umgang mit deinen Fantasien finden kannst. Wie wäre es, wenn du mit deinen Fantasien lachst? Etwa so: haha, da habe ich mir ausgemalt, dass ich die Macht habe, ein Land vollständig zu zerstören. Das Lachen mit deinen Fantasien schafft erstmal einen Abstand zwischen dir und den Fantasieinhalten. So machen sie dir weniger Angst.

Du kannst noch viele weitere kreative Umgangsformen mit deinen Fantasien finden. Du könntest zum Beispiel beobachten, was du in deinem Körper spürst, während du diese Fantasien hast. Bist du eher angespannt oder locker? Wo spannst du an? Wie ist die Atmung? Und mit all diesen Dingen kannst du spielen. Du könntest, wenn eine Fantasie aufkommt, deinen Kopf locker bewegen oder auf der Stelle hüpfen oder dein Becken kreisen, ganz schnell oder besonders tief atmen. Schau einfach mal, was passiert, wenn du das tust.

Und dann wäre es noch interessant, zu schauen, was es mit deinem Umgang mit Wut auf sich hat. Dazu empfehle ich dir sehr unseren Text Ich komme mit meinen Gefühlen nicht klar – was tun? Schau mal, was dich darin anspricht.

Ich kann gut nachvollziehen, dass sich dein Fortschritt oberflächlich anfühlt. Es kann gut sein, dass du dich nun nach einer Zeit der Stabilisierung bereit fühlst für einen tieferen Prozess.

Depression und andere Diagnosen sind Namen für Notfallprogramme. Wir empfehlen dir, dass du sie als Lösungsversuche ansiehst, mit dir und dem Leben klarzukommen. Das heisst: Hinter deiner Störung liegt eine Logik. Wenn du dich dafür interessierst, hast du den ersten Schritt zur „Heilung“ getan. Es ist sinnvoll, wenn du das mit psychotherapeutischer Unterstützung machst.

Wenn du eine Depression hast, sinkt dein Selbstvertrauen, du fühlst dich antriebslos, du kannst dich schlecht für was entscheiden, du kannst dich schlecht konzentrieren und verlierst den Spass am Leben. Vielleicht vergeht dir der Appetit, vielleicht isst du zu viel. Vielleicht kommst du nicht aus dem Bett, vielleicht kannst du nur schlecht schlafen. Vielleicht fühlst du dich leer und teilnahmslos, vielleicht ängstlich und angespannt. Depression unterscheidet sich klar von Traurigkeit: Bei Traurigkeit, kannst du weinen und weisst warum. Die Depression unterscheidet sich von Traurigkeit dadurch, dass Menschen mit Depression sich kaum freuen und manchmal auch nicht weinen können. Du kannst die Depression als eine Art Bremsmanöver, als ein Aussteigen vom Machen, Erleben und Spüren ansehen. Das ist eine Art, mit Überforderung umzugehen.

Was hast du denn in der Therapie bisher über dich herausgefunden? Hast du eine Idee, woher die depressiven Symptome kommen? Wobei haben die depressiven Symptome dich damals unterstützt? Schau dazu doch mal in unseren Text Wie hängen meine Probleme mit meiner Kindheit zusammen?

Kannst du versuchen, genauer zu beschreiben, was es bedeutet, dass du dich "emotional noch nicht wirklich besser fühlst"? Vielleicht hilft dir der Abschnitt oben dabei. Emotionen fühlen wir im Körper. Fühlst du deinen Körper? Fühlst du deinen Körper als etwas, was sich in alle Richtungen ausbreitet: oben-unten, rechts-links, vorne-hinten? Oder erlebst du dich eher flach und klein? Kannst du damit spielen? Dein emotionales Erleben hat viel damit zu tun, wie du deinen Körper einsetzt. Du kannst so noch viele Gefühlsqualitäten entdecken.

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