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Wie hängen meine Probleme mit der Kindheit zusammen?

Gut möglich, dass du wegen deinen Erfahrungen in der Kindheit ein niedriges Selbstwertgefühl hast, Probleme mit dir und mit dem Leben und vielleicht auch mit anderen Menschen. Dieser Text zeigt dir, was du tun kannst, um das klarer zu sehen und dir selbst zu helfen.

Etwas stimmt mit mir nicht – warum?

Vielleicht hast du ein niedriges Selbstwertgefühl. Du kommst mit dir nicht klar. Du magst dich nicht. Du bist sehr kritisch mit dir selbst. Im Stress machst du dich selbst herunter. Oder du fühlst dich ständig hilflos. Du hast deine Angst oder Wut oder Scham nicht im Griff. Oder dein Verhalten beschert dir immer wieder Probleme. Oder es fällt dir sehr schwer, Beziehungen einzugehen. Oder du hast immer wieder Probleme in Beziehungen. Du bist sehr misstrauisch. Oder du bist fahrlässig. Du kriegst immer wieder Streit. Oder du bist überangepasst und verlierst dich in Beziehungen.

Du spürst: Irgendetwas stimmt bei dir nicht. Du fragst dich, warum das so ist. Dann ist es eine gute Idee, dass du zurückblickst und schaust, wann das eigentlich angefangen hat.

Wie weit zurück liegen die Ursachen?

Ein Mann sitzt auf einem Sofa und sieht sich ein Fotoalbum an. Darin befinden sich Bilder von ihm selbst als Kind und von einem Haus. Manche der Bilder fallen aus dem Fotoalbum heraus.

Wenn du zurückblickst, ist es eine gute Idee, dass du ganz früh anfängst. In deiner Kindheit. So weit, wie du dich zurückerinnern kannst. Und noch weiter zurückliegend. Wie ging es dir als Baby, als Kleinkind? Was weisst du darüber? Hast du Bilder? Wie siehst du auf den Bildern aus? Wie ging es dem Kind? Wie standen die Eltern zu dir? Wie deine Geschwister? Oder gab es andere wichtige Personen? Was hattest du für eine Beziehung zu ihnen? Wer war wichtig?

Auch wenn du vielleicht nur wenig Erinnerungen hast, achte auf Bilder oder auf Gefühle, die du mit dem Damals verbindest. Keine Kindheit ist nur rosig. Und auch Eltern, die es grundsätzlich gut mit dir gemeint haben, haben vielleicht manches falsch gemacht. Das ist nicht spurlos an dir vorbeigegangen.

Nach was sollte ich suchen?

Du kannst dir sicherlich vorstellen, dass sexuelle Gewalt oder körperliche Gewalt eine schädliche Auswirkung auf Kinder haben kann. Du kannst dir sicher auch vorstellen, dass es für Kinder schlimm sein kann, wenn sie vernachlässigt werden oder verwahrlosen, oder wenn sie ständig geschimpft oder sonst wie fertig gemacht werden. Das sind die krassen Formen von Gewalt in der Familie.

Es gibt aber auch die subtile, versteckte Gewalt. Das sind Verhaltensweisen, die auch sehr schädlich sein können, die aber sehr schwierig zu erkennen sind, wenn man nicht genauer hinschaut. Wir haben dazu einen Text über versteckte Gewalt in der Familie geschrieben, den wir dir sehr empfehlen. Ausserdem empfehlen wir dir diesen Text über Strategien, wie sich Kinder in unsicheren Elternhäusern anpassen.

Was, wenn die Kindheit nur schön war?

Wenn du findest, dass alles schön war in der Kindheit, dann hast du vermutlich etwas ausgeblendet. In allen Familien passiert Schönes und Unschönes. Wenn du das Unschöne komplett ausblendest, kommst du nicht weiter mit deinen Problemen. Das Gehirn hat eine Angewohnheit, Unschönes ausblenden zu wollen. Das macht ja Sinn: Es geht uns besser, wenn wir das Schöne sehen.

Aber oft ist es so, dass das Unschöne wie eine dunkle Wolke im Hintergrund über uns hängt und uns an einem glücklichen Leben hindert. Dann sollten wir es anschauen. Es kann auch sein, dass du störende Flashbacks hast von schlimmen oder sehr stressigen Ereignissen, an die du dich nicht mehr erinnerst. 

Ich möchte meine Eltern nicht verteufeln

Es geht hier nicht darum, deine Eltern anzuschuldigen und an den Pranger zu stellen. Sie sind Menschen, und Menschen machen Fehler. Viele Menschen kommen mit sich selbst nicht so gut klar. Das zeigen sie auch in ihrem Verhalten gegenüber ihren Kindern.

Auch deine Eltern hatten eine Kindheit. Und auch sie haben vielleicht Dinge erlebt, die schwierig oder schlimm waren. Es kann sein, dass es ihnen daher schwerer fällt, wirklich wohlwollend für dich da zu sein. Es kann sein, dass sie an sich arbeiten. Sie reden vielleicht mit dir und entschuldigen sich und probieren ihr bestes. Sie wollen sich wirklich weiterentwickeln. Das ist für ihre Kinder gut: Sie sind dann gute Vorbilder, die zeigen, dass Menschen Schwierigkeiten überwinden und sich verändern können.

Viele Menschen wollen sich aber nicht verändern. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Das Gewohnte ist vertraut. und Vertrautes macht weniger Angst. Es kann daher sein, dass Eltern in ihren Problemen und ihrem schwierigen Verhalten verharren. Es kann auch sein, dass sie ihre Probleme gar nicht sehen  – wir Menschen sind oft erstaunlich blind uns selbst gegenüber. Dann leiden die Kinder.

Nochmal: Es geht hier nicht darum, deine Eltern anzuschuldigen. Es geht darum, dass du Mitgefühl entwickelst für das, was du als Kind mitgemacht hast.

Wie entwickle ich Mitgefühl für mich als Kind?

Als Kind haben wir die Fähigkeit, Eltern zu lieben. Manchmal machen die Eltern aber Sachen, die nicht liebenswert sind. Für Kinder ist es aber ganz wichtig, dass sie die Eltern lieben, weil sie die Eltern zum Überleben brauchen. Und da ist es sehr verständlich, dass du schwieriges oder schlimmes Verhalten deiner Eltern ausblendest.

Nehmen wir an, du bist auch heute nicht bereit, hinzuschauen, wo deine Eltern Fehler gemacht und schädliches Verhalten gezeigt haben. Dann nimmst du das Kind, was du mal warst, nicht ernst. Egal wie gut die Absichten der Eltern waren, dieses Kind hat gelitten.

Damit du Mitgefühl mit dir als Kind entwickeln kannst, musst du aber die Augen auf machen dafür, was das Kind mit diesen Eltern wirklich erlebt hat. Du musst bereit sein, zu sehen, was die Eltern diesem Kind angetan haben. Und dazu gehört Verhalten, was die Eltern nicht beabsichtigt haben, und was ihnen vielleicht auch gar nicht bewusst war, und was sie aus irgendwelchen triftigen Gründen nicht besser konnten. Entscheidend ist, dass das Kind darunter gelitten hat. Nimm das ernst.

Es hilft dabei, wenn du dich fragst: Wessen Leben ist dir wichtiger – das deiner Eltern oder dein eigenes? Wessen Glück ist dir wichtiger  – dein eigenes oder das deiner Eltern? Vielleicht merkst du, dass du das gar nicht so eindeutig sagen kannst. Du merkst dann, wie loyal du deinen Eltern gegenüber bist. Als jugendliche und erwachsene Person ist es aber wichtig, dass du vor allem einer Person loyal gegenüber bist: dir selbst.

Kann ich mir und meiner Erinnerung trauen?

Angenommen, Mitglieder deiner Familie haben dir immer gesagt, dass sie es gar nicht böse mit dir meinen, dass sie eigentlich das Beste für dich wollen. Vielleicht haben sie auch abgestritten, dass sie überhaupt etwas falsch gemacht haben. Oder sie sagen dir, dass das nicht ihre Absicht war, und trotzdem machen sie es immer wieder oder haben es immer wieder gemacht. Logisch, dass du deine Gefühle und dein Erleben dann in Frage stellst.

Umso wichtiger ist, dass du wie ein Detektiv darauf achtest, wo es Unstimmigkeiten gibt. Zum Beispiel: Deine Mutter sagte dir, du warst immer ein Sonnenschein. Aber du hast ständig ein mulmiges Gefühl gehabt. Du erinnerst dich an diesen Abend, wo du plötzlich grosse Angst hattest. Und dann hat man dich irgendwie geschimpft. Das passt nicht zusammen mit dem Bild vom Sonnenschein.

Wir haben grundsätzlich die Eigenschaft, die Vergangenheit schönzuzeichnen. Ausserdem kann man sich an schlimme Dinge oft weniger gut erinnern, weil das Gehirn so im Stress ist, wenn sie passieren, dass das was passiert, nicht sauber im Gedächtnis landet. Es wird unsauber abgelegt, als Stimmung, als Bild, ohne Zeitgefühl. Statt sich zu erinnern, kommt man in vergleichbare Zustände rein oder erlebt die Dinge auf vergleichbare Weise. Das nennt man auch einen Flashback. Bitte lies dazu diesen Text.

Achte daher auf alle Unstimmigkeiten, auf alle unangenehmen Bilder oder Gefühle, die du kennst. Nimm ernst, wenn es dir nicht gut geht. Nimm ernst, wenn du Probleme mit dir selbst und Menschen hast. Nimm ernst, wenn sich Flashbacks aufdrängen. All das zeigt dir, dass deine Welt damals nicht so heil war, auch wenn die anderen sie als heile Welt zeichnen, und auch wenn du sie gern als heile Welt zeichnen würdest.

Krieg ich das allein hin?

Es ist wirklich schwierig, sich von jahre- und jahrzehntealten Denkmustern zu befreien. Es ist wirklich schwierig, den Schritt aus der Familie in die Emanzipation zu machen und damit klarzukommen, dass man allein ist. Es gibt in dir wahrscheinlich Kräfte, die sich dagegen sträuben und alles beim Alten lassen wollen.

Da können Fachpersonen helfen. Zum Beispiel Traumatherapeut*innen oder grundsätzlich Psychotherapeut*innen, die sich auskennen mit Familiensystemen und -verstrickungen. Oder Coaches oder Berater*innen. Wenn du eine Fachperson suchst, schau immer, was sie für Ausbildungen und Weiterbildungen hatte, und was sie auf ihrer Website über ihre Berufserfahrung schreibt.

Es kann sinnvoll sein, dass du dir mehr als eine Person anschaust. Denn die Beziehung zwischen euch muss "stimmen". Du spürst das möglicherweise recht schnell.

Der einfachste Weg ist, dass du dich bei einer Beratungsstelle meldest – zum Beispiel bei einer Jugendberatungsstelle, bei einer Familienberatungsstelle oder bei einer Beratungsstelle für Opfer von Gewalt. Die Fachpersonen dort können dir helfen, jemanden zu finden, mit dem du arbeiten kannst.