Um mit einer schlimmen Erfahrung umzugehen, wird oft ein Notprogramm eingeschaltet. Es hilft dir, schwierige Situationen auszuhalten, kann dich aber im normalen Leben behindern.
Warum kommt es nach Gewalt zu Problemen?
Wenn du etwas Schlimmes erlebt hast – zum Beispiel körperliche oder emotionale Gewalt oder sexuelle Übergriffe –, kann es sein, dass du dich wirklich schlecht fühlst: angstvoll, schreckhaft, nervös, angespannt, hilflos. Du suchst du nach Möglichkeiten, dich wieder zu beruhigen und die Krise zu bewältigen. Du suchst dir Hilfe und findest Unterstützung bei anderen Menschen. Zudem kennst du vielleicht gute Möglichkeiten, dich zu beruhigen und zu trösten. So verarbeitest du das traumatische Erlebnis besser.
Vielleicht geht das aber alles nicht. Du bist vielleicht allein und überfordert. Vielleicht lebst du in einem Umfeld, wo nach wie vor Gewalt herrscht. Oder du hast das Gefühl, dass du anderen Menschen nicht trauen kannst. Oder man glaubt dir nicht. Da musst du sozusagen ein Notprogramm einschalten und Strategien entwickeln, um mit schlimmen Gefühlen und Situationen klarzukommen und dich und dein Leben irgendwie im Griff zu haben. Diese Strategien helfen kurzfristig, sind aber dauerhaft problematisch: Notprogramme sind nur für Notsituationen geeignet. Im normalen Leben behindern sie.
Was für Notprogramme sind problematisch?
Jeder Mensch reagiert in Krisen anders. Vielleicht erkennst du dich hier irgendwo wieder:
- Du hast ein überstarkes Kontrollbedürfnis. Alles muss genau nach einem bestimmten Schema funktionieren. Das gibt dir Sicherheit. Vielleicht entwickelst du auch ein zwanghaftes Verhalten.
- Du spaltest Teile von dir ab und erlebst dich nicht mehr als ein Ganzes. Das nennt man Dissoziation. Vielleicht funktioniert ein Teil sehr gut. Alles, was leidet, hast du abgespalten. Es ist, als ob das nicht mehr da wäre. Vielleicht taucht das zwischendurch als Flashback auf. Oder es passiert dir, dass du „switchst“, und in verschiedenen Situationen kommen verschiedene Anteile an die Oberfläche.
- Du entwickelst ein gestörtes Essverhalten. Vielleicht isst du zu wenig, um weniger zu spüren und weniger zu sein und ein Gefühl von Kontrolle zu kriegen. Oder du isst zu viel, um dich zu trösten und vielleicht auch einen Schutzwall um dich aufzubauen. Vielleicht erbrichst du dich danach, um Unruhe und Spannung loszuwerden, oder um dich zu bestrafen.
- Du spaltest deinen Körper völlig ab und spürst ihn kaum. So kannst du ihn eher vergessen.
- Du verletzt du dich selbst, um mit deinem inneren Schmerz umzugehen oder dich besser zu spüren, und vielleicht auch, um dich zu bestrafen.
- Du verdrängst deine Gefühle und erlebst sie nur als körperliche Schmerzen.
- Du versuchst, dich mit Alkohol oder Drogen oder anderen suchtartigen Verhaltensweisen zu beruhigen oder deinen Schmerz zu betäuben.
- Du ziehst dich zurück und weichst persönlichen Beziehungen oder sexuellen Beziehungen aus.
- Du suchst dir Beziehungen und Situationen, wo du gedemütigt, gequält und misshandelt wirst. Die Welt „stimmt“ so für dich, die Strafe gehört sich für dich, und du kriegst ein Gefühl von Kontrolle, weil du das selbst so „willst“.
- Du zeigst dich ganz tough und stark und verachtest alles „Schwache“ und Leidende in dir und vielleicht auch in anderen. Möglicherweise wirst du übermässig aggressiv und gewalttätig.
- Du steigst innerlich aus. Du flüchtest in Fantasiewelten und weisst vielleicht selbst nicht mehr, was wahr oder falsch ist.
Möglicherweise hat man dir auch eine psychische Störung diagnostiziert, zum Beispiel eine posttraumatische Belastungsstörung, eine Zwangsstörung, eine Depression, oder eine Essstörung. Vielleicht hast du auch psychosomatische Beschwerden. Mehr über all diese Störungsbilder liest du in diesem Text.
Was, wenn ich als Kind Gewalt erlebt habe?
Wenn du als Kind Gewalt erlebt hast, ist das besonders schlimm. Denn du hattest noch gar nicht die Klarsicht oder Lebenserfahrung, um mit schlimmen Situationen umzugehen. Vielleicht haben dir deine Eltern nicht geholfen. Oder vielleicht waren sie diejenigen, die die Gewalt ausgeübt haben. Du musstest Strategien entwickeln, um in dieser Situation zu überleben. Vielleicht hast du gelernt, dich und deine Gefühle abzuwerten. Vielleicht hast du eine Zerrbrille aufgesetzt, die nur das Schöne sah. Vielleicht hast du dir selbst die Schuld an allem gegeben, damit du deine Eltern nach wie vor als gute Menschen sehen konntest. Vielleicht bist du in eine Rolle geschlüpft, die „gepasst“ hat und hast alles andere abgespalten. Mehr über diese Strategien liest du in diesem Text.
Wie komme ich von meinen Strategien los?
Egal wie merkwürdig oder schwierig dein Verhalten oder Erleben auch ist: Du hast es aus gutem Grund entwickelt. Und weil es dir mal geholfen hat, hast du es beibehalten. Es wurde zur Gewohnheit. Um davon loszukommen, ist es zunächst wichtig, dass du verstehst und anerkennst, warum dein Erleben und dein Verhalten so ist, wie es ist. Es ist wichtig, dass du Mitgefühl für dich und dein Leiden entwickelst und dir Achtung dafür schenkst, dass du es geschafft hast, zu überleben. Gleichzeitig solltest du Verständnis dafür entwickeln, dass es alles andere als leicht ist, dein Erleben und Verhalten zu verändern. Wir empfehlen dir deshalb psychotherapeutische Unterstützung. Vielleicht möchtest du dich an eine Opferhilfeberatungsstelle wenden, um Adressen zu bekommen.
Ich hab das aber schon so lang...
Es nie zu spät, das Notprogramm hinter dir zu lassen und einen neuen Umgang mit dir und deinem Leben zu entwickeln. Auch wenn du deine Probleme schon Jahrzehnte lang hast. Du kannst uns deine Gedanken auch erst mal anonym ins Fragefenster schreiben. Oder du kannst dich von BIF Zürich per Email beraten lassen.