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Wie hab ich mich an mein Elternhaus angepasst?

Wenn in der Familie dauernd Stress oder gar Gewalt erlebt hast, hast du Strategien entwickelt, um damit besser klar zu kommen. Schon als kleines Kind. Heute, wo du jugendlich oder erwachsen bist, zeigen sich diese Strategien möglicherweise immer noch. Aber jetzt helfen sie nicht mehr, sondern stören.

Kinder müssen sich anpassen

Wenn du in deinem Elternhaus offene Gewalt oder schwierige Situationen und Stress mit deinen Eltern erlebt hast, musstest du dich irgendwie anpassen. Stell dir vor, ein 4-jähriges Kind liegt nachts immer wieder wach und hört, wie die Eltern einander anschreien. Es ist völlig verängstigt. Es weiss nicht, was es mit seiner Angst machen soll. Niemand tröstet es. Wenn es 10 Jahre älter wäre, würde es sich vielleicht sagen: "Mir reichts, ich reisse hier aus".

Aber ein 4-jähriges kann nicht einfach ausreissen. Es ist von seinen Eltern völlig abhängig. Es muss irgendwie Strategien entwickeln, damit es die Dinge, die es erlebt, aushält und in diesem Umfeld überleben kann. Diese Strategien werden es möglicherweise bis ins Erwachsenenalter begleiten – auch wenn es sie dann gar nicht mehr bräuchte.

Wir zeigen dir hier einige dieser Strategien. Versetz dich bitte in die Situationen, die wir beschreiben, und schau, ob da vielleicht etwas auf dich zutreffen könnte.

Angespannt und wachsam werden

Kinder kriegen sehr viel mit: Schon als Baby wurdest du von den Gefühlen der anderen angesteckt. Ab etwa 18 Monaten konntest du dich dann gefühlsmässig in sie hineinversetzen. Du hast verstanden, dass Mama jetzt wütend und Papa jetzt traurig ist. Du konntest für sie Mitgefühl entwickeln.

Ab dem Alter von etwa 4 hast du nach und nach die Fähigkeit entwickelt, dir vorzustellen, was andere Personen denken. Du hast gelernt, zwischen den Zeilen zu lesen. Wenn du in einem unsicheren Umfeld aufgewachsen bist, hast du das um so besser gelernt: Du hast gelernt, zu lesen, dass das Zucken in Papas Mundwinkel und Mamas gepresste Stimme bedeuteten, dass es jetzt gleich Krach gab. Du warst ständig auf der Hut. Du warst nie so richtig entspannt.

Heute bist du vielleicht ständig eher angespannt und wachsam. Es fällt dir schwer, rund um andere Menschen zu entspannen und loszulassen.

Wegschauen und ausblenden

Angenommen, du hast als Kind wiederholt Dinge mitgekriegt, die sehr unschön waren. Das fühlt sich fürchterlich an. Da ist es logisch, wenn du gelernt hast, wegzusehen und wegzuhören – ganz nach dem Motto: "Was ich nicht sehe, passiert auch nicht". Vielleicht hast du gelernt, die Dinge wirklich nicht mehr zu sehen oder zu hören. Du bist innerlich in eine andere Welt verschwunden.

Heute findest du, dass in der Kindheit alles schön war. Aber die unschönen Dinge sind eben doch irgendwie in deinem Gedächtnis gelandet. Und es kann sein, dass sie sich auch wieder melden. Man nennt das Flashbacks. Mehr darüber erfährst du in diesem Text.

Abstumpfen und eine Zerrbrille aufsetzen

Ein junger Mann schaut durch eine rosarote Brille und sieht durch sie seine Eltern, die glücklich Arm in Arm stehen. Er sieht nicht, dass seine Eltern auch neben der Brille zu sehen sind. Dort schreit der Vater die Mutter an und hält sie am Kopf fest.

Stell dir vor, es war ständig Krach. Irgendwann hast du gelernt, dass das "normal" ist. "Papa schreit halt" und "Mama droht halt immer mal wieder, dass sie sich umbringen wird" – solche Dinge wurden in deinen Augen "normal". Es gelang dir so, ein Bild davon zu entwickeln, dass es bei euch zuhause okay war. Du bist gegenüber schlimmem Verhalten abgestumpft. Was andere Leute entsetzen oder entrüsten würde, liess dich kalt. Du hast dir sozusagen eine Zerrbrille aufgesetzt, die Dinge schönzeichnet.

Jetzt bist du älter und gehst mit anderen Menschen Beziehungen ein. Die Zerrbrille hast du immer noch auf. Da kann es dir eher passieren, dass du zulässt, wenn Menschen unschön oder brutal mit dir umgehen. Denn für dich ist auch das normal.

Eltern schönzeichnen und sich selbst abwerten

Du bist als Kind von deinen Eltern auf Leben und Tod abhängig. Aus kindlicher Sicht ist es unglaublich wichtig, dass die Eltern vertrauenswürdig, verlässlich und liebenswert sind. Wenn du als Kind aber spürst, dass die Eltern das nicht sind, musst du das Bild irgendwie zurecht biegen: Wenn Mama mit dir schimpft, hat sie wohl recht. Wenn Papa dich ignoriert, macht er das wohl aus gutem Grund. Du hast es wohl verdient, geschimpft und ignoriert zu werden. Die Eltern haben recht. Du bist falsch. Mit dir stimmt was nicht. Mit den Eltern schon.

Diese kindliche Logik verfolgt viele bis ins Erwachsenenalter. Falls das bei dir auch so ist, dann verstehst du jetzt, warum dein Selbstwertgefühl so mies ist. Und du verstehst auch, warum du deine Eltern immer noch auf einen Sockel stellst und findest "Ich habe tolle Eltern".

Die eigenen Gefühle niedermachen

Wenn du als Kind oft angstvoll, verzweifelt oder hilflos dasitzt, und es tröstet dich niemand, dann entwickelst du irgendwann eine innere Stimme, die dein eigenes Gefühlserleben niedermacht. Du denkst dann Sätze wie: "Hab dich nicht so!" "Reiss dich zusammen!" "Du machst dir das nur vor!" "Die haben Recht, du hast das verdient!" "Selber Schuld!" "Du hast es so gewollt!"

Vielleicht kennst du heute noch so eine innere Stimme, die dich so zurechtweist oder fertig macht. Damals war die Stimme wichtig: Sie hat dir geholfen, dein kindliches Leiden nicht ernst zu nehmen. Wenn du es ernst genommen hättest, wärest du völlig verzweifelt. Die Stimme hat dir gehofen, dich in dein Umfeld einzugliedern. Sie hat dir beim Überleben geholfen.

Heute stört die Stimme. Du leidest darunter, dass du dich ständig fertig machst. Die Stimme hat einfach noch nicht begriffen, dass die Vergangenheit vorbei ist. In diesem Text erfährst du mehr über den schwierigen Umgang mit unangenehme Gefühlen.

Bedürfnisse und Gefühle abwerten und abwehren

Jedes Kind braucht Liebe von seinen Eltern. Stell dir nun vor, dass einige deiner Bedürfnisse oder Eigenschaften bei euch zuhause keinen Platz hatten. Zum Beispiel warst du sehr willensstark oder lebhaft. Oder du brauchtest viel körperliche Zuwendung. Das passte bei euch Zuhause einfach nicht. Du hast gelernt, dass diese Seiten von dir nicht liebenswert waren. Die Elternliebe war für dich als Kind wichtiger als die Selbstverwirklichung.

Daher hast du die störenden Bedürfnisse abgewertet und abgewehrt. Du hast sie "weggesteckt". Okay waren für dich nur die Seiten oder das Bild von dir, das Zuwendung von den Eltern bekommen hat: Zum Beispiel das brave Kind. Oder das starke Kind. Oder das selbständige Kind.

Heute melden sich die abgewehrten Seiten und Bedürfnisse möglicherweise. Aber du wertest und wehrst sie immer noch ab. Da melden sie sich um so lauter und störender. Sie wollen ernstgenommen werden.

Sich mit den Eltern identifizieren

Stell dir vor, du hattest Eltern, die dir sehr wenig Zuneigung gegeben haben. Die liebevolle Nähe hat gefehlt. Die Eltern-Kind-Bindung war brüchig. Als Kind war sie für dich aber unglaublich wichtig – sie war das Wichtigste überhaupt. Du hast daher probiert, Nähe zu den Eltern aufzubauen. Zum Beispiel hast du dich so verhalten, dass du eher Aufmerksamkeit und Zuwendung bekommen hast.

Vielleicht hast du auch angefangen, so zu denken wie deine Eltern. Die Identifikation ist eine Möglichkeit, Nähe aufzubauen: "Wenn ich so denke wie die, bin ich so wie die, und dann bin ich ihnen ganz nahe", so lautet die kindliche Logik. Auch was sie über dich gedacht haben, hast du übernommen: "Du bist so ungeschickt!" "Du musst das können!" "Ein Mann tut sowas nicht"… Ihre Stimme ist sozusagen in dich hineingewandert und zu deiner eigenen geworden. Heute besteht diese Stimme in dir weiter.

Verhaltensprobleme und Störungen

Alles, was wir bis jetzt beschrieben haben, kann zu Verhaltensproblemen und Störungen des Selbstbilds und Selbsterlebens führen. Es kann sein, dass du eine Essstörung entwickelt hast oder einen Zwang oder ein anderes schwieriges Verhalten. Wir empfehlen dir, dass du dazu diesen Text list.

Und was jetzt?

Vielleicht erkennst du dich in einigen dieser Beschreibungen wieder. Du fragst dich, was du jetzt damit tun kannst. Einen wichtigen ersten Schritt hast du bereits getan. Du hast Interesse für dich und deine Geschichte entwickelt. Du kommst weiter, wenn du klarer siehst, was abgelaufen ist, und wenn du Verständnis und Mitgefühl für das Kind entwickelst, was du mal warst. Wir empfehlen dir dazu auch diesen Text.