Auch in ganz normalen Familien gehen Eltern bisweilen nicht gut mit den Kindern um. Das sieht man oft an der Oberfläche nicht. Da herrscht heile Welt. Wir beschreiben dir hier einige Verhaltensweisen und Situationen, die nicht okay sind.
Egal ob heute oder damals...
Wir schreiben hier über Eltern. Es kann sein, dass du das Verhalten von anderen wichtigen Bezugspersonen her kennst.
Wenn du deine Familie anschaust, denkst du vielleicht „es ist alles in Ordnung“ oder "Ich habe eine ganz normale Familie“. Das ist sehr gut möglich, dass deine Familie ganz normal ist. Aber in ganz normalen Familien können ganz unschöne Dinge passieren. Sehr gut möglich, dass es deinen Eltern selbst nicht bewusst ist, dass sie dir damit schaden und dass du möglicherweise jahrzehntelang darunter leidest. Ihr Verhalten kann schädliche Auswirkungen auf dein Selbstwertgefühl und auf dein Verhalten in Beziehungen haben – oder gegenüber deinen eigenen Kindern.
Wir möchten dir hier einige Verhaltensmuster aufzeichnen, die nicht okay sind. Versetz dich in die folgenden Situationen und schau, ob dir da was aus deiner eigenen Familie bekannt vorkommt. Wenn du erwachsen bist und nicht mehr bei deinen Eltern lebst, stell dir deine Vergangenheit als Kind deiner Eltern vor. Es geht hier nicht drum, Eltern als Bösewichte darzustellen, sondern mehr Mitgefühl für dich als Kind zu haben. Das ist wichtig dafür, dass du eine gute Beziehung zu dir selbst aufbauen kannst.
Wir schreiben hier nicht über offensichtliche körperliche oder sexuelle Gewalt. Falls du das in der Familie erlebst oder erlebt hast, lies bitt diesen Text. Aber in Familien, wo es zu körperlicher oder sexueller Gewalt kommt, wirst du wahrscheinlich auch die eine oder andere in diesem Text beschriebenen Situationen oder Verhaltensweisen kennen.
Deine Bedürfnisse haben keinen Platz
Deine Mutter hat einen schlechten Tag und lässt deshalb deinen lang ersehnten Ausflug ins Wasser fallen, weil sie den Nerv dazu nicht hat. Du bist sehr enttäuscht. Wenn das einmal passiert, dann ist das kein Problem. Deine Mutter konnte einfach nicht. Aber deine Mutter macht das häufig: Sie stellt ihre eigenen Bedürfnisse im Grunde ständig über deine. Wie es dir geht und was du willst, wird grundsätzlich abgewertet. Die Bedürfnisse der anderen sind wichtiger. Du lernst, dass deine Bedürfnisse keinen Platz haben.
Du wirst in eine Rolle gezwängt
Bist du als Person in den Augen deiner Eltern wirklich wichtig? Oder wollen sie, dass du irgendeinem Bild entsprichst? Zum Beispiel die erfolgreiche Tochter, oder der gute Sohn? Wenn du diesem Bild entsprichst, können sich Eltern darin sonnen und aufwerten. Du selbst hast dadurch möglicherweise ein völlig überhöhtes Selbstbild und kommst dann im Leben nicht so gut klar.
Oder du spürst, dass das Bild deiner Eltern nicht der Wirklichkeit entspricht. Du kriegst Stress, weil du dem Ideal nicht entsprichst. Du beginnst, dich dafür abzuwerten.
Es kann auch sein, dass du in der Familie in irgendeine Rolle gedrängt wirst, die nicht so schön ist: der Tollpatsch, das Problemkind, das Dummchen usw. Der Rest der Familie schaut dann mit mehr oder weniger offensichtlicher Verachtung auf dich runter. Dadurch werten sie sich selbst auf. Und du beginnst, dich selbst abzuwerten.
Du wirst instrumentalisiert
Deine Mutter hat eine längere Krise. Ihr Partner hat sie verlassen. Du bist ihr Sonnenschein, ihr Trost. Wie im oberen Abschnitt wirst du auch hier in eine Rolle gezwängt. Aber das hier geht weiter: Du musst für deine Mutter sorgen. Eigentlich übernimmst du sozusagen eine Elternrolle. Du wirst instrumentalisiert für einen Zweck.
Man nennt das auch Parentifizierung (parents ist englisch für Eltern): Ein Elternteil oder beide Eltern geben dem Kind eine nicht kindgerechte und vor allem überfordernde elterliche Rolle und die damit verbundenen Aufgaben. Es kann sein, dass du so eine Rolle eine ganze Kindheit lang übernehmen musst. Das ist schlimm. Denn du kannst als Kind diese Rolle gar nicht übernehmen. Du kannst ihr nicht genügen. Du spürst: "Ich genüge nicht".
Du wirst verwöhnt
Wenn Eltern ihr Kind verwöhnen, nehmen sie ihm Unangenehmes ab und erfüllen seine Wünsche sofort. Eine traumhaft schöne Kindheit? Nein. Denn die Probleme beginnen schnell – sobald ein verwöhntes Kind mit der "richtigen" Welt in Berührung kommt. Zum Beispiel im Kindergarten. Wenn von ihm erwartet wird, dass es selbst Sachen macht, oder wenn es erfährt, dass es nicht alles bekommt. Ein verwöhntes Kind konnte nicht lernen, schwierige Situationen auszuhalten und zu meistern. Das ist eigentlich sehr schlecht für den Selbstwert.
Manche Eltern verwöhnen ihre Kinder, weil sie ihre Ruhe wollen. Sie nehmen sich nicht die Zeit und Energie, um ihren Kindern Grenzen zu setzen und die daraus folgenden Konflikte mit ihnen auszutragen. Verwöhnen kann also auch als eine Form von Vernachlässigung gesehen werden.
Du wirst manipuliert
Angenommen, du willst mit einer befreundeten Familie in die Ferien. Deine Mutter sieht dich mit einem traurigen Blick an und sagt "Ich wünsch dir schöne Ferien. Wir kommen schon ohne dich zurecht". Du kennst diesen Blick und den leidenden Tonfall. Du spürst, dass du sie im Stich lässt. Du bekommst ein schlechtes Gewissen. Du hast eine schlaflose Nacht. Am nächsten Morgen sagst du der befreundeten Familie ab. Deine Mutter hat durch Manipulation hingekriegt, dass du sie in den Ferien nicht "verlässt".
Manipulation sieht folgendermassen aus: Wir wollen etwas von einer anderen Person. Wir wissen oder vermuten, dass uns die Person das nicht einfach so gibt. Also fragen oder bitten wir sie nicht offen darum. Sondern wir probieren, versteckt, hintenrum zu unserem Ziel zu kommen. Oft machen wir das, indem wir bei der anderen Person unangenehme Gefühle provozieren. Manipulation ist eine menschliche Fähigkeit. Wir alle können das – und machen es viel öfter, als wir meinen.
Unangenehme Gefühle werden geschürt
Noch bevor wir klar denken können, können wir fühlen. Angst und Scham zum Beispiel. Angst und Scham sind zwei sehr unangenehme Emotionen, die wir am liebsten vermeiden. Wenn du als Kind angeschrien wirst, kriegst du Angst. Wenn du blossgestellt wirst, erlebst du Scham. Du möchtest diese Gefühle in Zukunft vermeiden und probierst deshalb, dich so zu benehmen, dass dir diese Gefühle nicht mehr eingejagt werden.
Stell dir vor, deine Eltern nutzen das aus. Sie schüren unangenehme Emotionen, um dich zu kontrollieren. Oder vielleicht leben sie ihre eigenen Emotionen auch unkontrolliert vor dir aus. Du wirst von ihren unangenehmen Gefühlen angesteckt, oder sie machen dir Angst. Eigentlich bräuchtest du das Gegenteil: Wenn du unangenehme Gefühle erlebst, solltest du getröstet werden.
Deine Gefühle werden abgewertet statt getröstet
Vielleicht kennst du Sprüche wie "Hab dich nicht so!" oder "Du musst keine Angst haben!". Vielleicht kennst du es, wenn Menschen dich ausgelacht haben, weil du "ein Angsthase" warst. Vielleicht kennst du es auch, dass Wut bestraft wird. Es gibt viele Arten, wie Gefühle abgewertet werden können. Dabei sind Gefühle unglaublich wichtig. Sie sind echt und ehrlich. Sie zeigen uns, wie es uns geht.
Die Rolle von Eltern und anderen erwachsenen Bezugspersonen ist eigentlich, den Kindern beizubringen, mit ihren Gefühlen klar zu kommen. Hier spielt Trösten eine wichtige Rolle. Trösten heisst: Kind in den Arm nehmen. Gefühl ernst nehmen. Echte Probleme anschauen und zu lösen helfen. Überhöhte Sorgen lindern. Kind beruhigen und sagen: "Es ist nur ein Gefühl, es wird vorbeigehen". Es ist unglaublich wichtig, dass Kinder getröstet werden. Denn es hilft ihnen, als Erwachsene besser mit ihren Gefühlen klar zu kommen und sich selbst zu trösten.
Du wirst in Ehekonflikte verwickelt
Deine Eltern streiten. Worüber streiten sie? Sie streiten darüber, wie sie dich erziehen. Mama findet, Papa solle dich strenger anfassen, Papa wirft ihr "schwarze Pädagogik" vor. Du weisst nicht, was das heisst, und wer recht hat. Aber du weisst, dass du der Grund des Streites bist. Wenn Eltern Krach haben oder im kalten Krieg leben, geben sich Kinder oft die Schuld dafür.
Noch schlimmer ist, wenn Vater und Mutter separat probieren, dich auf ihre Seite zu kriegen. Sie reden dir gegenüber schlecht über einander. Vielleicht benutzen sie dich auch, um die andere Person zu "bearbeiten": Du sollst Papa "mal gut zureden" oder Mama "zur Vernunft bringen". Du landest in einem Loyalitätskonflikt. Das ist eine innere Zerreissprobe. Denn du kannst es nicht beiden gleichzeitig recht machen. Das ist unglaublicher Stress.
Es kann auch schlimm sein, wenn Eltern zusammenbleiben, die besser getrennt sein sollten. So sehr die Trennung schmerzt: Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.
Du hörst etwas anderes, als du erlebst
"Ich will das beste für dich". Die meisten Eltern sagen das nicht nur, sondern meinen es tatsächlich. Ganz grundsätzlich stimmt das sicher auch. Aber wenn man dann das Verhalten im Einzelnen anschaut, zeigt sich oft ein anderes Bild. Deine Mutter verbietet dir zum Beispiel, dass du mit einem tollen Mädchen Kontakt hast, weil sie mit der Mutter dieses Mädchens nicht klarkommt. Sie hat ein persönliches Interesse daran, dass du mit dem Mädchen keinen Kontakt hast.
Ehrlicherweise müsste sie dir sagen: "Ich will das Beste für mich, und du musst deshalb den Kürzeren ziehen". Trotzdem hörst du ständig von ihr: "Ich möchte nur das Beste für dich". Du merkst, dass das irgendwie nicht stimmt, denn es gibt immer wieder Situationen, wo ihr Verhalten das nicht zeigt. Aber du willst deiner Mutter vertrauen. Du willst ihr glauben. Du vertraust dann vielleicht nicht mehr so in dich selbst und in deine Gefühle.
Schlimmes Verhalten wird mit guten Absichten gerechtfertigt
Dein Vater macht eine abfällige Bemerkung über deine Lieblingsmusik. Du nervst dich darüber. Du wirfst ihm vor, dass er deine Sachen immer runtermacht. Er sagt: "Oh, sorry, das war nicht meine Absicht, dich zu verletzen. Ich hab nur einen Witz gemacht." Schön und gut. Aber dann macht er am nächsten Tag wieder irgendeine abfällige Bemerkung.
Wenn er deinen Vorwurf am Tag davor wirklich ernst genommen hätte, und wenn ihm das wirklich leid tun würde, würde er sich bemühen, in Zukunft keine abfälligen "Witze" mehr zu machen. Das war aber nicht so: Dein Vater hat probiert, die Tat schönzuzeichnen. Er setzt sich nicht damit auseinander, dass er sich unschön dir gegenüber benimmt. Er stellt sich selbst in ein schöneres Licht. Das sorgt für Verwirrung in deinem Kopf. Eigentlich spürst du die böse Absicht. Aber du traust deinem Gespür nicht mehr über den Weg.
Motive und Gedanken werden dir in den Kopf gepflanzt
Kinder glauben ihren Eltern vieles. Klar, Eltern sind erwachsen und viel erfahrener. Was sie sagen, nehmen Kinder eher für bare Münze. Das heisst auch, dass Eltern Kindern einiges in den Kopf setzen können. Vielleicht hast du schon mal so ähnliches gehört: "Du willst das doch eigentlich gar nicht, du meinst das nur". Oder: "Du bist so wie ich – ich konnte mich als Kind auch nicht so gut durchsetzen". Mit solchen Aussagen werden dir Ideen und Motive in den Kopf gepflanzt, die nicht deine eigenen sind. Sie können für grosse Verwirrung in deinem Kopf sorgen. Denn irgendwie stimmt da gefühlt was nicht. Wenn du wirklich so bist, wie die sagen, dass du bist, dann stimmst du nicht. Denn insgeheim fühlst du dich anders.
Ja, aber das ist doch alles normal...
Vielleicht findest du, wir übertreiben. Das ist doch alles normal, findest du. Keine Kindheit ist perfekt. Eltern sind nicht perfekt. Du hast recht. Es ist normal – insofern, als dass die hier beschriebenen Muster sehr häufig vorkommen. Deshalb sind sie trotzdem nicht gut. Es ist verständlich, wenn du so tust, als ob das alles okay ist. Viele machen das, damit ihre Situation besser aussieht. Aber dann nimmst du dich selbst nicht ernst. Denn als Kind leidest du unter diesen Dingen. Auch als erwachsene Person leidest du vielleicht noch an den Folgen deiner Vergangenheit. Oder du erlebst heute immer noch unschönes Verhalten deiner Eltern oder anderer Bezugspersonen.
Was kann ich tun?
Nimm dieses Leiden ernst. In ganz vielen Familien geschehen unschöne Dinge – unter anderem deshalb, weil sich niemand darüber bewusst ist, dass sie schlimm sind. Erst wenn wir dem Schlimmen ins Auge sehen und es erkennen, können wir etwas dafür tun, dass wir uns davon lösen, statt es stets zu wiederholen. Wir empfehlen dir sehr, dass du dich beraten lässt und dir Unterstützung holst, dich zu emanzipieren.