Auch wenn du es gut mit deinem Kind meinst, tust du vielleicht manche Dinge, die ihm nicht gut tun. Ohne dass dir das bewusst ist. Es ist daher gut, wenn du mal genau hinschaust.
Meine ich es immer gut mit meinem Kind?
Wenn du ein Kind hast, willst du wahrscheinlich das Beste für dieses Kind. Aber als Mutter oder Vater gelingt es nicht, immer, diese wohlwollenden Haltung zu haben. Du bist gestresst, das Kind treibt dich zur Weissglut – und schon seid ihr in einem Kampf miteinander. Das ist normal. Wichtig ist: Die Haltung dahinter ist trotzdem eine liebende, fürsorgliche. Und der Kampf bleibt die Ausnahme.
Aber möglicherweise hast du deinem Kind gegenüber auch bestimmte Motive hast, die nicht im Interesse des Kindes sind. Diese Motive sind dir selbst nicht bewusst. Auch das ist normal. Als gute Mutter oder guter Vater interessierst du dich dafür und probierst, deine Haltung und dein Verhalten zu ändern.
Wir zeigen dir hier einige typische Situationen und Verhaltensweisen, die vielen Eltern nicht bewusst sind, und die den Kindern nicht guttun, sondern schaden. Vielleicht erkennst du die eine oder andere Tendenz bei dir – oder bei deiner Partnerin*deinem Partner oder anderen Eltern in deinem Umfeld.
Die eigenen Bedürfnisse immer voranstellen
Du hattest mal wieder einen schlechten Tag. Deshalb lässt du den Ausflug ins Wasser fallen, auf den sich dein Kind gefreut hat, weil du den Nerv dazu nicht hast. Dein Kind ist sehr enttäuscht. Wenn das einmal passiert, dann ist das kein Problem. Du konntest einfach nicht. Aber angenommen, das passiert häufig: Dein Wohlergehen, deine Bedürfnisse, sind wichtiger als die des Kindes. Wie es deinem Kind geht und was es will, wird grundsätzlich abgewertet. Deine Bedürfnisse sind wichtiger. Das Kind lernt, dass seine Bedürfnisse keinen Platz haben.
Dem Kind eine Rolle geben
Frag dich, ob dein Kind irgendeinem Bild entsprechen soll. Zum Beispiel die erfolgreiche Tochter, oder der gute Sohn? Wenn dein Kind diesem Bild entspricht, geht es dir besser, du kannst dich sozusagen selbst damit aufwerten.
Möglicherweise entwickelt dein Kind dadurch ein überhöhtes Selbstbild und kommt dann mit der Realität des Lebens nicht so gut klar. Oder es spürt, dass dein Bild von ihm nicht seiner Wirklichkeit entspricht. Es kriegt Stress, weil es dem Ideal nicht entspricht. Es beginnt, sich selbst dafür abzuwerten.
Es kann auch sein, dass es von dir oder anderen Familienmitgliedern in irgendeine Rolle gedrängt wird, die nicht so schön ist: der Tollpatsch, das Problemkind, das Dummchen usw. Du oder vielleicht auch die ganze Familie schaut dann mit mehr oder weniger offensichtlicher Verachtung auf es runter. Ohne dass euch das bewusst ist, wertet ihr euch dadurch auf. Und das Kind, beginnt sich abzuwerten.
Frag dich. Wie interessant findest du dein Kind als Person? Wie sehr darf es "sein eigenes" haben? Auch wenn das dir völlig fremd ist?
Das Kind instrumentalisieren
Stell dir vor, du hast eine längere Krise. Vielleicht hat dich dein*e Partner*in verlassen. Das Kind ist dein Sonnenschein, dein Trost. Wie im oberen Abschnitt wird es auch hier in eine Rolle gezwängt. Aber das hier geht weiter: Das Kind muss für dich sorgen. Eigentlich übernimmt es sozusagen eine Elternrolle. Es wird instrumentalisiert für einen Zweck.
Man nennt das auch Parentifizierung (parents ist englisch für Eltern): Ein Elternteil oder beide Eltern geben dem Kind eine nicht kindgerechte und vor allem überfordernde elterliche Rolle und die damit verbundenen Aufgaben. Es kann sein, dass dein Kind so eine Rolle eine ganze Kindheit lang übernehmen musst. Das ist schlimm. Denn ein Kind kann diese Rolle gar nicht übernehmen. Es kannst ihr nicht genügen. Es spürt: "Ich genüge nicht".
Wenn du diese Gefahr bei deinem Kind siehst, ist es unbedingt nötig, dass du dir Unterstützung holst – vielleicht auch fachliche –, so dass du besser selbst für dich sorgen kannst und das Kind entlastest.
Das Kind verwöhnen
Wenn Eltern ihr Kind verwöhnen, nehmen sie ihm Unangenehmes ab und erfüllen seine Wünsche sofort. Eine traumhaft schöne Kindheit? Nein. Denn die Probleme beginnen schnell – sobald ein verwöhntes Kind mit der "richtigen" Welt in Berührung kommt. Zum Beispiel im Kindergarten. Wenn von ihm erwartet wird, dass es selbst Sachen macht, oder wenn es erfährt, dass es nicht alles bekommt. Ein verwöhntes Kind konnte nicht lernen, schwierige Situationen auszuhalten und zu meistern. Das ist eigentlich sehr schlecht für den Selbstwert.
Vielleicht verwöhnst du dein Kind, weil du ihm die Freiheit lassen möchtest, sich selbst zu entfalten. Man weiss mittlerweile, dass das Kinder überfordern kann. Sie sind möglicherweise später ohne klare Perspektiven und Pläne fürs Leben und fühlen sich damit gar nicht gut.
Vielleicht verwöhnst du dein Kind auf, weil du nicht die Zeit und Energie hast, deinem Kind Grenzen zu setzen und die daraus folgenden Konflikte mit ihm auszutragen. So krass das klingt: Verwöhnen kann also auch als eine Form von Vernachlässigung gesehen werden. Hier wäre auch die Frage: Was für Unterstützung kannst du dir holen? Oder gibt es in deinem Umfeld jemand, der "strenger" mit deinem Kind ist? Schon der regelmässige Kontakt mit dieser Person kann deinem Kind helfen.
Das Kind manipulieren
Manipulieren ist ein unschönes Thema. Aber es wäre falsch, wenn wir die Augen davor schliessen würden. Denn wir alle können manipulieren. Und wir alle tun es viel öfter, als wir meinen.
Wie sieht Manipulation aus? Wir wollen etwas von einer anderen Person. Wir wissen oder vermuten, dass uns die Person das nicht einfach so gibt. Also fragen oder bitten wir sie nicht offen darum. Sondern wir versuchen, versteckt, hintenrum zu unserem Ziel zu kommen. In der Regel probieren wir dazu, der anderen Person das Gefühl zu geben, sie sei Schuld daran, wenn es uns schlecht geht. Um dieses Schuldgefühl nicht zu haben, macht die Person das, was sie eigentlich nicht machen wollte. Es geht ihr dabei nicht gut.
Angenommen, deine Tochter will mit einer befreundeten Familie in die Ferien. Du siehst sie mit einem traurigen Blick an und sagst "Ich wünsch dir schöne Ferien. Wir kommen schon ohne dich zurecht". Deine Tochter kennt diesen Blick und den traurigen Tonfall. Sie spürt, dass sie dich im Stich lässt. Sie bekommt ein schlechtes Gewissen. Sie hat eine schlaflose Nacht. Am nächsten Morgen sagt sie der befreundeten Familie ab. Du hast durch Manipulation hingekriegt, dass sie dich in den Ferien nicht "verlässt".
Es gibt viele Alltagsbeispiele von Manipulation, die nicht so krass sind wie das hier beschriebene. Was kann man tun, dass das nicht so oft passiert? Wir empfehlen, das Verführen zu üben. Mehr dazu findest du in diesem Text, der den Unterschied zwischen Verführen und Manipulieren aufzeigt.
Unangenehme Gefühle schüren
Noch bevor wir klar denken können, können wir fühlen. Angst und Scham zum Beispiel. Angst und Scham sind zwei sehr unangenehme Emotionen, die wir am liebsten vermeiden. Wenn dein Kind angeschrien wird, kriegt es Angst. Wenn es blossgestellt wird, erlebt es Scham. Es möchte diese Gefühle in Zukunft vermeiden und probiert deshalb, sich so zu benehmen, dass ihm diese Gefühle nicht mehr eingejagt werden.
Überleg dir, wie das bei euch ist. Lebst du oder jemand anderes oft unangenehme Emotionen unkontrolliert vor dem Kind aus? Das Kind wird von diesen unangenehmen Gefühlen angesteckt, oder es kriegt Angst davor. Eigentlich bräuchte es das Gegenteil: Wenn es unangenehme Gefühle erlebt, sollte es getröstet werden.
Wir haben oben über Manipulation geschrieben. Hier werden unangenehme Emotionen geschürt, um das Kind zu kontrollieren oder das zu bekommen, was man will. Es ist wichtig, dass wir uns alle bewusst sind, wie schädlich das eigentlich für das Kind ist.
Gefühle abgewerten statt trösten
Vielleicht kennst du Sprüche wie "Hab dich nicht so!" oder "Du musst keine Angst haben!". Vielleicht kennst du es, wenn Menschen ausgelacht werden, weil sie "ein Angsthase" sind. Vielleicht kennst du es auch, dass Wut bestraft wird. Es gibt viele Arten, wie Gefühle abgewertet werden können. Dabei sind Gefühle unglaublich wichtig. Sie sind echt und ehrlich. Sie zeigen uns, wie es uns geht.
Deine Rolle als Mutter, Vater oder anderen erwachsenen Bezugspersonen ist eigentlich, den Kindern beizubringen, mit ihren Gefühlen klar zu kommen. Hier spielt Trösten eine wichtige Rolle. Trösten heisst: das Kind in den Arm nehmen. Das Gefühl ernst nehmen. Echte Probleme anschauen und zu lösen helfen. Überhöhte Sorgen lindern. Das Kind beruhigen und sagen: "Es ist nur ein Gefühl, es wird vorbeigehen". Es ist unglaublich wichtig, dass Kinder getröstet werden. Denn es hilft ihnen, als Erwachsene besser mit ihren Gefühlen klar zu kommen und sich selbst zu trösten.
Das Kind in Ehekonflikte verwickeln
Du streitest mit deinem Partner*deiner Partnerin über die Kindererziehung. Du findest, dein*e Partner*in solle dein Kind strenger anfassen, dein*e Partner*in wirft dir "schwarze Pädagogik" vor. Dein Kind weisst nicht, was das heisst, und wer recht hat. Aber es weiss, dass es der Grund des Streites bist. Wenn Eltern Krach haben oder im kalten Krieg leben, geben sich Kinder oft die Schuld dafür.
Noch schlimmer ist, wenn beide Eltern separat probieren, das Kind auf ihre Seite zu kriegen. Sie reden dem Kind gegenüber schlecht über einander. Vielleicht benutzen sie das Kind auch, um die andere Person zu "bearbeiten": Das Kind soll Papa "mal gut zureden" oder Mama "zur Vernunft bringen". Das Kind landet in einem Loyalitätskonflikt. Das ist eine innere Zerreissprobe. Denn es kann es nicht euch beiden gleichzeitig recht machen. Das ist unglaublicher Stress.
Tipps zum Thema Streit um die Erziehung erfährst du in diesem Text. Und in diesem Text stehen Tipps, wenn zwischen euch Eltern gar nichts mehr gut ist.
Worte nicht mit Taten bestätigen
"Ich will das beste für dich". Die meisten Eltern sagen das nicht nur, sondern meinen es tatsächlich. Ganz grundsätzlich stimmt das sicher auch. Aber wenn man dann das Verhalten im Einzelnen anschaut, zeigt sich oft ein anderes Bild. Stell dir vor, du verbietest deinem Sohn, dass er mit einem tollen Mädchen Kontakt hat, weil du mit der Mutter dieses Mädchens nicht klarkommst. Du hast ein persönliches Interesse daran, dass dein Sohn mit dem Mädchen keinen Kontakt hast.
Ehrlicherweise müsstest du ihm sagen: "Ich will das Beste für mich, und du musst deshalb den Kürzeren ziehen". Stattdessen hört dein Sohn von dir: "Ich möchte nur das Beste für dich". Er merkt, dass das irgendwie nicht stimmt, denn es gibt immer wieder Situationen, wo dein Verhalten das nicht zeigt. Aber er will dir vertrauen. Er will dir glauben. Er vertraut dann vielleicht nicht mehr so in sich selbst und in seine Gefühle.
Verhalten mit guten Absichten rechtfertigen
Stell dir vor: Du machst eine abfällige Bemerkung über die Lieblingsmusik deiner Tochter. Sie nervt sich darüber. Sie wirft dir vor, dass du ihre Sachen immer runtermachst. Du sagst: "Oh, sorry, das war nicht meine Absicht, dich zu verletzen. Ich hab nur einen Witz gemacht." Schön und gut. Aber was, wenn du am nächsten Tag wieder irgendeine abfällige Bemerkung machst?
Wenn du ihren Vorwurf am Tag davor wirklich ernst nimmst, und wenn dir das wirklich leid tut, bemühst du dich, in Zukunft keine abfälligen "Witze" mehr zu machen. Wenn du hingegen probierst, die Tat schönzuzeichnen, stellst du dich selbst in ein schöneres Licht. Das sorgt für Verwirrung im Kopf deiner Tochter. Eigentlich spürt sie die böse Absicht. Aber sie traut ihrem Gespür nicht mehr über den Weg.
Motive und Gedanken in den Kopf pflanzen
Kinder glauben ihren Eltern vieles. Klar, Eltern sind erwachsen und viel erfahrener. Was sie sagen, nehmen Kinder eher für bare Münze. Das heisst auch, dass Eltern Kindern einiges in den Kopf setzen können. Vielleicht hast du schon mal diesen Satz gesagt: "Du willst das doch eigentlich gar nicht, du meinst das nur". Oder: "Du bist so wie ich – ich konnte mich als Kind auch nicht so gut durchsetzen".
Mit solchen Aussagen pflanzt du deinem Kind Ideen und Motive in den Kopf, die nicht seine eigenen sind. Vielleicht redet es sich dann selbst ein, dass das so ist wie du sagst. Es kann auch grosse Verwirrung in seinem Kopf stiften. Denn irgendwie stimmt da gefühlt was nicht. Insgeheim fühlt es sich anders. Drum kriegt es das Gefühl, etwas stimmt mit ihm nicht.
Darum: Auch wenn du das Gefühl hast, du kennst dein Kind in und auswendig, lass ihm die Möglichkeit, selbst herauszufinden wer es ist.
Ja, aber das ist doch alles normal...
Vielleicht findest du, wir übertreiben. Das ist doch alles normal, findest du. Keine Kindheit ist perfekt. Eltern sind nicht perfekt. Du hast recht. Es ist normal – insofern, als dass die hier beschriebenen Muster sehr häufig vorkommen. Deshalb sind sie trotzdem nicht gut. Es ist verständlich, wenn du so tust, als ob das alles okay ist.
Es kann auch sein, dass du beim Lesen manchmal an deine eigene Kindheit gedacht hast. Wir haben einen ganz ähnlichen Text aus der Sicht des Kindes geschrieben. Wir empfehlen dir, dass du ihn auch liest. Denn es ist gar nicht so selten so, dass wir genau die Dinge, unter denen wir als Kinder gelitten haben, als Eltern wiederholen, ohne dass es uns bewusst ist. Je klarer du die Dinge erkennst, desto besser kannst du bewusst daran arbeiten, schädliche Erziehungs- und Beziehungsmuster zu überwinden.
Wo finde ich Unterstützung?
Auf unserer Linkliste findest du Links und Adressen von Beratungsstellen für Eltern und Familien. Falls Gewalt ein Thema ist, wende dich bitte an eine Beratungsstell der Opferhilfe. Bei vielen Beratungsstellen kannst du dich persönlich, telefonisch oder online beraten lassen.