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Warum ist Gewalt in der Familie besonders schlimm?

Egal ob körperliche Gewalt, sexuelle Gewalt und krasse Formen der emotionalen Gewalt – wenn du das als Kind in der Familie erlebt oder erlebt hast, ist das besonders schlimm. Wir zeigen dir, wieso.

Ist es schon vorbei?

Wir schreiben hier über Eltern. Es kann sein, dass du das Verhalten von anderen wichtigen Bezugspersonen her kennst. Wir schreiben diesen Text für dich, egal ob du noch bei deinen Eltern lebst oder schon lange nicht mehr. Wenn du immer noch bei deinen Eltern lebst, geht die Gewalt wahrscheinlich immer noch weiter. Auch wenn du nicht mehr bei deinen Eltern lebst, kann es sein, dass die Gewalt noch weitergeht. Und auch wenn du deine Eltern schon lange nicht mehr gesehen kannst, leidest du möglicherweise immer noch an den Folgen. Umso wichtiger ist, dass du dir Beratung und Unterstützung holst. Bitte lies dazu diesen Text.

Wir möchten dir hier einige Situationen und Verhaltensmuster aufzeichnen. Schau, ob dir da was aus deiner eigenen Familie bekannt vorkommt. Auch wenn du jetzt jugendlich oder schon lang erwachsen bist, stell dir deine Vergangenheit als Kind deiner Eltern vor. Es geht hier nicht drum, Eltern als Bösewichte darzustellen, sondern mehr Mitgefühl für dich als Kind zu haben. Das ist wichtig dafür, dass du eine gute Beziehung zu dir selbst aufbauen kannst.

Von was für Gewalt ist hier die Rede?

In diesem Text geht es um Dinge, bei denen die allermeisten Leute sagen würden, dass das Gewalt ist. Stell dir zum Beispiel vor: Du wirst als Kind verprügelt. Du wirst körperlich verletzt. Man macht sexuelle Übergriffe bei dir. Man lässt dich im Stich. Du erlebst mit, wie andere körperlich oder sexuell missbraucht werden. Du wirst nach Strich und Faden emotional fertig gemacht. Du wirst eingesperrt. Man droht dir mit schlimmen Dingen. Man zwingt dich dazu, schlimme Dingen zu tun.

All diese Dinge könnten dir auch von anderen Personen zugefügt werden. Wenn du sie als Kind in der eigenen Familie erlitten hast, ist es aber besonders schlimm. Hier sind einige Gründe:

Liebe und Grausamkeit werden vermischt

Stell dir dich selbst als kleines Kind vor. Vielleicht wurden dir schlimme Dinge angetan durch Personen, von denen du auf Leben und Tod abhängig warst. Du konntest nicht einfach wegrennen. Zudem waren das Personen, die du eigentlich geliebt hast oder lieben wolltest – und die dir je nachdem auch gesagt haben, dass sie dich lieben.

Dieser Widerspruch aus "Ich liebe meine Mama oder meinen Papa" und "Mama und Papa machen schlimme Dinge mit mir" ist zuviel für das kindliche Gehirn. Es führt zu einer grossen Verwirrung darüber, was Liebe ist, was man will und was nicht, woran man Schuld ist und woran nicht. Das kann schwerwiegende Folgen haben für das Selbstbild, für das Selbstwertgefühl und für die Beziehungen zu sich selbst und anderen Menschen.

Ab frühester Kindheit herrscht Gefahr

Wenn dir etwas Schlimmes passiert ist, brauchst du Trost, Schutz und Zeit, damit du dich erholen kannst. Wenn dir aber als Kind immer wieder Schlimmes passiert ist, konntest du dich gar nicht davon erholen. Du hast eigentlich ständig in einem Umfeld von Gefahr und üblem Stress gelebt.

Je früher das anfing, desto schlimmer. Du warst dem schutzlos ausgeliefert und hast nicht verstanden, was richtig und was falsch ist. Dein Selbstbild und dein Weltbild wurden davon entscheidend beeinflusst. Heute noch fällt es dir vielleicht sehr schwer, anderen zu vertrauen, Zuversicht zu haben und dich zu entspannen.

Hoffnungen werden enttäuscht

Angenommen, deine Mutter hat dich an einem Abend, als sie betrunken war, verprügelt. Sie war nachher darüber total schockiert, hat sich bei dir entschuldigt und gesagt: "Das kommt nie wieder vor – das Trinken hört jetzt auf". Es kam auch nie wieder vor. Sie hat einen Alkoholentzug gemacht. Du hast daraus gelernt, dass deine Mutter nicht unfehlbar ist, aber dass sie aus Fehlern lernt, und dass du auf ihr Wort zählen kannst. Unterm Strich war das eine gute Lernerfahrung.

Angenommen aber, sie fängt wieder an zu trinken. Sie schlägt dich wieder. Und wieder. Sie zeigt danach immer Reue und gelobt Besserung. Du hoffst und hoffst – aber irgendwann lernst du, dass sich das nicht bessern wird. Du lernst, dass du auf ihr Wort nicht zählen kannst. Du lernst, dass du auf Reue und Entschuldigungen von Menschen nicht setzen kannst.

Mitwisser*innen sind Mittäter*innen

Eine Mutter, ein Vater und ihre kleine Tochter sitzen auf dem Sofa und schauen fern. Der Vater berührt mit einer Hand den Schoss der Tochter, mit der anderen seinen eigenen. Die Tochter hat einen erschrockenen Blick. Die Mutter isst Popkorn und schenkt den beiden keine Aufmerksamkeit.

Angenommen, dein Vater hat schlimme Dinge mit dir gemacht. Dann gab es ja auch noch die Mutter. Sie hätte dich schützen können. Aber sie tat das nicht. Sie hat zugesehen und nichts gemacht. Oder sie hat weggeschaut und nichts gemacht. Oder sie hat den Vater dir gegenüber in Schutz genommen. Ihr war das Heile-Welt-Bild wichtiger als dein Wohlergehen. Oder eine friedliche Beziehung mit ihrem Mann. Das ist leider gar nicht so selten.

Durch dieses Verhalten hat sich deine Mutter zur Mittäterin gemacht. Ihre Gewalt an dir war subtiler, versteckter: Sie hat deine Bedürfnisse, dein Eigenes, dein Wohlergehen abgewertet. Wenn du in deiner Familie immer wieder krasse Gewalt erlebt hast, fand das in einem Milieu statt, wo auch diese versteckte Gewalt geherrscht hat. Drum ist es wichtig, wenn du auch darüber mehr Bescheid weist. Lies dazu bitte diesen Text.

Das Heile-Welt-Bild ist wichtiger als das Kind

Vielleicht tat dir eine Tante oder ein Cousin etwas Schlimmes an. Du hast das deinen Eltern erzählt. Diese sind für dich eingetreten und haben dafür gesorgt, dass das nie wieder passiert, und dass die Person zur Rechenschaft gezogen wurde. Du hast diese Erfahrung möglicherweise glimpflich überstanden.

Was aber, wenn dir deine Eltern nicht geglaubt haben? Wenn das einfach nicht in ihr Bild der heilen Familienwelt gepasst hat? Sie haben abgestritten, was passiert ist, oder sie haben dir die Schuld daran gegeben. Dann hast du dich wahrscheinlich selbst in Frage gestellt oder schuldig gefühlt. Vielleicht hast du es auch niemandem erzählt. Du hast die anderen gut genug einschätzen können. Du wusstest, dass sie dich nicht ernstnehmen würden. Du hast gelernt, dass du sehr einsam bist. Dass du mit niemandem reden kannst.

Kinder werden isoliert

Vielleicht haben deine Eltern dir vermittelt, dass die Welt "böse" ist, dass die Nachbarn es böse mit euch meinen, oder dass man niemandem trauen kann ausser der eigenen Familie. Vielleicht galten bei euch Regeln und Ansichten, die bei anderen nicht galten. Deine Eltern haben dir vermittelt, dass ihre Regeln und Ansichten besser waren. Vielleicht habt ihr sogar ziemlich abgeschottet gelebt. Es kann sein, dass deine Eltern wirklich geglaubt haben, was sie gesagt haben. Es kann auch sein, dass sie dir bewusst Angst eingejagt haben vor anderen Menschen.

Du hast vielleicht gespürt, dass das irgendwie nicht stimmte, aber deine Loyalität gegenüber den Eltern war wichtiger als deine eigene Meinung. Du hast deine Fühler vielleicht nicht so nach aussen gestreckt und dir dort gute Bezugspersonen geholt. Dadurch bist du noch abhängiger von deiner Familie geworden.

Liebe und Loyalität werden ausgenutzt

Angenommen, dein Vater machte regelmässig sexuelle Übergriffe bei dir. Gleichzeitig warst du "sein Sonnenschein", und ihr hattet etwas "Spezielles" miteinander. "Das ist unser Geheimnis", sagte er dir. "Ich kann auf dich zählen, dass du deinen Vater nicht in Probleme bringst, nicht wahr? Du bist ein gutes Kind."

Hier geht die Vermischung aus Liebe und Grausamkeit, die wir weiter oben beschrieben haben, noch weiter: Dein Vater manipulierte dich zum Schweigen und nutzte dabei deine Liebe und Loyalität aus. Er gab dir ein perverses Bild davon, was die Liebe zwischen Vater und Kind ist, und was loyales Verhalten ist. Heute noch fällt es dir vielleicht schwer, sein Verhalten als das zu sehen, was es wirklich war: sexuelle Ausbeutung und grausame Manipulation.

Die Schuld wird dem Kind gegeben

Vielleicht wurdest du mit Drohungen zu irgendwelchen Handlungen oder zum Schweigen gebracht. "Wenn du das erzählst, wird uns Papa verlassen", hiess es zum Beispiel. Vielleicht wurde dir bei diesen Drohungen eine grosse Verantwortung zugeschoben. Als ob du daran Schuld wärest, dass Papa euch verlässt. Dabei wäre das ganz allein Papas Entscheid. Egal was dir als Kind passiert ist, egal was du vielleicht auch für Mist gebaut hast – das rechtfertigt und entschuldigt nie die Gewalt, die dir angetan wurde. Dafür sind allein diejenigen verantwortlich, die sie dir angetan haben.

Aber Kinder sind sehr empfänglich für Schuldzuweisungen: Die Ehe bricht auseinander, ein Elternteil kriegt eine Depression oder droht mit Suizid – Kinder beziehen das sehr schnell auf sich. Manche Eltern nützen das aus und schieben den Kindern noch schlimmere Schuldgefühle zu. Wenn die Kinder älter werden, können sie diese nicht einfach so abschütteln. Überleg dir, ob du heute noch Schuldgefühle gegenüber deinen Eltern hast.

Die Erfahrungen überschatten alle Beziehungen

Gerade wenn du eine Kindheit lang Gewalt erlitten hast, dann beeinflusst das möglicherweise alle deine Beziehungen – nicht nur zu anderen, sondern auch zu dir selbst. Du hast Strategien entwickelt, um in einem schlimmen Umfeld zu überleben, und heute stehen dir die gleichen Strategien im Weg. Mehr darüber erfährst du in diesem Text. Bitte lies auch unseren Text über versteckte Gewalt. Es ist gut möglich, dass du deine Familie auch da wiedererkennst.

Was kann ich tun?

Wir empfehlen dir, dass du dir Hilfe holst. Egal ob du jetzt Gewalt erlebst oder ob das lange zurückliegt. Es ist einfach zu viel, um es allein zu bewältigen. Hilfe kann auch ganz niederschwellig und anonym sein. In diesem Text erfährst du, welche Möglichkeiten du hast, dich unterstützen zu lassen.