Guten Tag liebes Lilli-Team
Ich (w,31) habe euch bereits vor ca. 10 Jahren geschrieben zum Thema sexueller Übergriff. Dieser geschah im Ausland (Zentralasien) und wurde von meinem Gastvater begangen. Nun hat mich eine Kollegin letztes Jahr gefragt, ob ich mit ihr nach Zentralasien reisen würde. Ohne an den Übergriff zu denken, fühlte ich bereits ein gewisses Unbehagen gegenüber dieser Idee. Trotzdem habe ich zugesagt.
Jetzt in der Planung wurde mir vom Reisebüro geraten als Frauen möglichst nicht alleine unterwegs zu sein und geführte Touren in die Berge etc. zu buchen. Erst mit diesem Hinweis wurde mir das Ereignis vor zehn Jahren wieder bewusst und beschäftigt mich. Meine Kollegin hat auch vorgeschlagen meine damalige Gastfamilie zu besuchen. Nun überlege mich mir eine gute Ausrede dies nicht unbedingt tun zu müssen, aber mir fällt nichts passendes ein. Ich bin mir auch nicht mehr sicher, ob ich überhaupt nochmals dorthin reisen möchte. Auf der anderen Seite ist der Planungsprozess bereits fortgeschritten und ich würde mich sehr schlecht fühlen das Ganze wieder abzusagen und die Länder sind spannend und sehr schön.
Zudem war der Übergriff wohl nur eine sexuelle Belästigung und eigentlich ist auch nicht viel passiert ist, trotzdem beschäftigt es mich. Hier eine kurze Zusammenfassung, was passiert ist: Mein Gastvater hat mich an intimen Stellen berührt (ich war bekleidet), dabei gestöhnt, seinen Körper an meinen gedrückt und mich geküsst. Er hat dann von mir abgelassen, als sein Bruder hinzu gekommen ist. Wir waren irgendwo draussen, ziemlich weit weg von der Zivilisation, die beiden wollten mir etwas zeigen. Passiert ist es als der Bruder des Gastvaters kurz austreten musste. Ich hatte mich kaum gewehrt, stand einfach wie angewurzelt da und hoffte, dass es schnell vorbei geht, was ja glücklicherweise so geschah.
Was würden Sie mir raten? Reise absagen oder mich konfrontieren auch mit der Gastfamilie? Der Kollegin erzählen, was passiert ist, kann ich nicht, ich schäme mich zu fest dafür, dass es mich 10 Jahre später immer noch beschäftigt.
Unsere Antwort
Ich finde es verständlich, dass dich der sexuelle Übergriff auch 10 Jahre nach dem Ereignis noch beschäftigt. Das, was dein Gastvater getan hat, war nicht in Ordnung. Er hat deine Grenzen massiv überschritten.
Du schreibst nun davon, wie schwer es dir fällt, deine Bedürfnisse und Grenzen deiner Kollegin gegenüber zu äussern für eure Reiseplanung. Meine Vermutung ist, dass beides zusammenhängt. Und ich vermute, dass es dir hilft, genauer zu spüren, was du da eigentlich körperlich tust. Denn das hilft dir, dich in Zukunft besser zu schützen.
Wir können uns dann gut schützen, wenn wir uns gross und weit fühlen. Das heisst: Du spürst deinen Körper gut in seiner vollständigen Grösse. Die Füsse sind fest verankert auf dem Boden. Die Aufmerksamkeit breitet sich in alle 6 Richtungen aus: nach oben und unten, rechts und links, vorne und hinten. Die Atmung ist tief. Der Bauch ist locker.
Mithilfe von Körperübungen kannst du diesen Zustand herstellen. Klopfe zum Beispiel auf eine schöne Musik deinen ganzen Körper für 3-5 Minuten ab, um ihn gut zu spüren. Schicke deine Aufmerksamkeit etwa 20 Zentimeter über deinen Körper hinaus in alle 6 Richtungen jeweils für 3 Atemzüge. Also so, als würdest du dich in diese Richtungen ein Stück ausdehnen. Lass deine Atmung bis tief in den Bauch fallen.
Und wenn du in diesem Zustand der Ausdehnung bist, denk nochmal an eure Reiseplanung und überlege, wie du gut für dich sorgen kannst. Womit würde es dir gut gehen? Was wäre dir zu viel? Womöglich fällt dir im Kontrast auf, wo du eng und klein gewesen bist beim Gedanken an die Reise nach Zentralasien.
Du kannst uns gerne wieder schreiben und uns mitteilen, wie das für dich war. Gib dann bitte die Nummer dieser Frage an.
Du schreibst von grosser Scham darüber, dass du dich nicht gewehrt hast. Hast du im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt schon den Satz gehört "Die Scham muss die Seite wechseln"? Der Satz stammt aus den Gerichtsprozessen von Gisèle Pelicot gegen ihre Vergewaltiger. Es geht darum, dass es an der Zeit ist, dass sich Täter sexualisierter Gewalt schämen. Dabei geht es darum gesellschaftlich anders auf sexuelle Übergriffe zu blicken und die Scham bei den Menschen zu verorten, die Unrecht tun: die Täter. Du hast keine Schuld an dem, was dir passiert ist. Mehr dazu steht in unserem Text Gewalt: Schuld und Verantwortung.
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