Ich war gerade bei meiner zweiten gynäkologischen Untersuchung überhaupt. Ich habe es immer vermieden wegen meinem Trauma.
Bei der ersten wusste ich, dass sie ansteht, habe vorher Medikamente genommen, mich darauf eingestellt und der Arzt war informiert, dass es schwierig ist und er mich auf das Medizinische ablenken soll.
Diesmal dachte ich, es wäre nur ein Gespräch und war unvorbereitet. Es war eine fremde Ärztin, die zwar nett aber eben nicht informiert war. Ich musste mich auch zwei Mal ausziehen und auf den Stuhl setzen, weil sie beim ersten Mal etwas vergessen hatte. Das Spekulum tat beim Eingang der Vagina recht weh und ich bin wegsdissoziiert. Konnte sie hören, aber habe wie tot gelegen und versucht nicht da zu sein. So wie früher. Mich danach wieder angezogen. So wie früher. Und jetzt fühle ich mich … wie früher. Missbraucht, benutzt, beschmutzt. Dass ich mir weh tun sollte. Dass ich ekelhaft bin.
Ich bin wütend auf mich, dass ich mich nicht getraut habe, etwas zu sagen.
Unsere Antwort
Du kannst Gegenwart und Vergangenheit ganz gut unterscheiden. Das ist eine gute Grundlage für die Bewältigung deiner jetzigen Situation. Es stimmt, dass du früher sexuelle Gewalt erleiden musstest. Die Ärztin bei der Untersuchung hat keine Übergriffe gemacht. Sie war nur nicht informiert und nicht richtig vorbereitet. Es geht jetzt darum, dass du dir das immer wieder klar machst. Es gibt einen Unterschied zwischen deiner früheren Traumatisierung und der heutigen medizinischen Fürsorge, die du brauchst. Das ist der Teil, den du für dich heute und für zukünftige gynäkologische Untersuchungen und Behandlungen beitragen kannst. Falls du in einer Psychotherapie bist, könntest du dir dort bei dieser Verständnisarbeit helfen lassen. Vielleicht hilft die Unterscheidung von früher und heute dir auch bei der Überwindung den Verletzungswünschen. Die Täterschaft hat ekelhaft gehandelt und sollte Scham- und Schuldgefühle haben. Nicht du!
Könnte deine Wut dir helfen, für dich selbst aktiv zu werden? Du könntest auch nachträglich ein Gespräch mit der Ärztin führen. Es gibt nämlich so etwas wie «best practice» für Gynäkologinnen im Umgang mit traumatisierten Patientinnen. Im Artikel «Trauma-informed Care und die vaginale Untersuchung» wird diese Arbeit beschrieben. Die schweizerischen Gynäkologinnen sehen die traumasensible Arbeit als ihren konkreten Beitrag zur Umsetzung der Istanbulkonvention. Das ist ein Übereinkommen des Europarates zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen. Trauma-informed Care oder TIC ist also ein international anerkanntes Konzept im Umgang mit Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben. Sie gilt für alle medizinischen und sozialen Behandlungen, Begleitungen und Betreuungen.
Grundlage der TIC in der Gynäkologie sind: 1. Das Vorkommen von Traumatisierung und die Formen der Traumabewältigung zu kennen. 2. Die Traumafolgen bei Patientinnen zu erkennen oder nachzufragen. 3. Vorhandenes Wissen zu Traumatisierung in die Praxis umzusetzen 4. Aktiv eine Re-Traumatisierung zu vermeiden. Eine TIC-geschulte Gynäkologin würde z.B. vor der Behandlung sagen «Manchen Frauen fällt es schwer, sich gynäkologisch untersuchen zu lassen, weil sie belastende Situationen in der Vergangenheit erlebt haben. Wie ist es bei Ihnen?» oder «Haben Sie ein Anliegen, von dem Sie möchten, dass ich das weiss?». Sie würde vor der Untersuchung über deren Sinn informieren und ihre Handlungen immer vorher ankündigen. Sie würde Stressreaktionen erkennen und darauf reagieren.
Deine Gynäkologin hat dich nicht aktiv angesprochen und nicht für deinen Schutz und dein Wohlbefinden gesorgt. Leider haben noch nicht alle Professionellen aus Medizin, Pflege und Sozialarbeit TIC-angemessene Arbeitsabläufe entwickelt. Du kannst mit einem Gespräch oder der Weitergabe des Artikels dazu beitragen, dass sich das Wissen verbreitet.
Wichtig ist, dass du dich jetzt nicht vollständig abwendest und entscheidest, nie wieder zur Gynäkologin zu gehen!
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