Fortsetzung zu Frage Nr. 36813 vom 30.04.2023
Hallo nochmal :)
Ich bin euch sehr für eure Tipps und Anmerkungen dankbar.
Es wäre Jammern auf hohem Niveau zu behaupten, ich hätte eine schlimme Kindheit gehabt. Fakt ist, dass es zwischen meinen Eltern öfters gekracht hat und ich aus mehreren Gründen bei social skills immer hinterhergehinkt bin.
Ich versuche immer aus meinen Fehlern zu lernen, daher bin ich auf Abstand geblieben und habe mich ihr langsam genähert, bevor ich sie nach dem Date gefragt hatte.
Mir war auch vorher schon bewusst, dass ich meine Wünsche zu lange zurückhalte, aber es hat mich wachgerüttelt, euch die gleiche Schlussfolgerung ziehen zu sehen.
Ja, das Warten war die Angst vor Ablehnung, weil sie zwar eine taffe, aber dem Thema Beziehung auch sensible Frau ist. Ich habe mehrmals vor und nach eurer Antwort versucht mich anzunähern und zu flirten. Das ging mal gut und mal schlecht aus und führte dennoch immer zu dem Ergebnis, dass sie keine Zeit habe.
Wir haben irgendwann angefangen online zusammen zu spielen, was ich erst positiv bewertet habe.
Als ich gemerkt habe, dass sich dabei nichts vorwärts bewegt, hat sich mein Kummer aber in Frust und schließlich Ärger gewandelt.
Ich habe sie bei einem Telefonat zur Rede gestellt und wollte endlich einen Beweis ihrer Zuneigung, denn es kam sehr wenig zurück (nach 7 Monaten!).
Sie hat mir daraufhin von mehreren heftigen Traumen erzählt, die ihr Verhalten zum Großteil erklären und wie sehr sie aktuell in Arbeit versinkt (10-13h täglich ohne Pause) und ihr war nicht klar, wie sehr ich gelitten habe (trotz mehrfacher Aufforderung mich doch abzuweisen, wenn sie kein Interesse hätte).
Wir haben uns weinend unterhalten, bis sie meinte 'sie habe mich wirklich wirklich gern, aber sie glaube, sie könne mir nicht geben, was ich brauche'. Wir sind gute Freunde und Kollegen geblieben und ich hoffe, das bleibt auch so.
Ich bin jetzt drüber weg und habe gelernt, mich nie mehr so abhängig zu machen. Es wäre beispielsweise mit einer Fernbeziehung eine ganz andere Sache, aber wir hatten ja nichtmal ein Date!
Danke fürs Zuhören und die Denkanstöße!
Unsere Antwort
Herzlichen Dank für deine Rückmeldung.
Du schreibst: "Fakt ist, dass es zwischen meinen Eltern öfters gekracht hat und ich aus mehreren Gründen bei social skills immer hinterhergehinkt bin." Und du schreibst, "Es wäre Jammern auf hohem Niveau zu behaupten, ich hätte eine schlimme Kindheit gehabt." Da sind wir anderer Meinung. Wir halten es für ausgesprochen wichtig, mit viel Mitgefühl zu ergründen woher Verhaltensweisen kommen, die dir heute das Leben schwer machen. Dafür ist die pauschale Bewertung "schlimme Kindheit" nicht notwendig. Es genügt der Blick für einzelne Verhaltensweisen, die dir nicht gut getan haben und bis heute Folgen auf dein Leben haben.
Du hast unseren verlinkten Text Wie hängen meine Probleme mit meiner Kindheit zusammen? gelesen. Es gehört zum Kapitel Gewalt und Stress im Elternhaus. Daraus möchte ich ein paar Aspekte aufgreifen, um dir zu verdeutlichen, welche Zusammenhänge es gibt.
Wenn sich die Eltern heftig streiten, kann das für ihre Kinder traumatisch sein. Denn die Kinder sind von ihren Eltern komplett abhängig. Entsprechend schlimm fühlt sich der Streit für Kinder an.
Wenn dir etwas Schlimmes passiert ist, brauchst du Trost, Schutz und Zeit, damit du dich erholen kannst. Wenn dir aber als Kind immer wieder Schlimmes passiert ist, konntest du dich gar nicht davon erholen. Du hast eigentlich ständig in einem Umfeld von Gefahr und üblem Stress gelebt.
Stell dir vor, ein 4-jähriges Kind liegt nachts immer wieder wach und hört, wie die Eltern einander anschreien. Es ist völlig verängstigt. Es weiss nicht, was es mit seiner Angst machen soll. Niemand tröstet es. Wenn es 10 Jahre älter wäre, würde es sich vielleicht sagen: "Mir reichts, ich reisse hier aus".
Aber ein 4-jähriges kann nicht einfach ausreissen. Es ist von seinen Eltern völlig abhängig. Es muss irgendwie Strategien entwickeln, damit es die Dinge, die es erlebt, aushält und in diesem Umfeld überleben kann. Diese Strategien werden es möglicherweise bis ins Erwachsenenalter begleiten – auch wenn es sie dann gar nicht mehr bräuchte.
Tauchen wir etwas tiefer in diese Strategien ein: Wenn du als Kind oft angstvoll, verzweifelt oder hilflos dasitzt, und es tröstet dich niemand, dann entwickelst du irgendwann eine innere Stimme, die dein eigenes Gefühlserleben niedermacht. Du denkst dann Sätze wie: "Hab dich nicht so!" "Reiss dich zusammen!" "Du machst dir das nur vor!" "Die haben Recht, du hast das verdient!" "Selber Schuld!" "Du hast es so gewollt!"
Vielleicht kennst du heute noch so eine innere Stimme, die dich so zurechtweist oder fertig macht. Vielleicht hat sie Einfluss darauf gehabt, dass du deine Kollegin lange Zeit nicht an deinem Leid hast teilhaben lassen. Damals, als du noch ein Kind warst, war die Stimme wichtig: Sie hat dir geholfen, dein kindliches Leiden nicht ernst zu nehmen. Wenn du es ernst genommen hättest, wärest du völlig verzweifelt. Die Stimme hat dir gehofen, dich in dein Umfeld einzugliedern. Sie hat dir beim Überleben geholfen.
Heute stört die Stimme. Du leidest darunter, dass du dich ständig fertig machst. Die Stimme hat einfach noch nicht begriffen, dass die Vergangenheit vorbei ist. In diesem Text erfährst du mehr über den schwierigen Umgang mit unangenehmen Gefühlen.
Mich nimmt es Wunder, auf welche Weise du dich nie wieder so abhängig machen möchtest. Ich könnte mir vorstellen, dass es am nähesten liegt, auf gewohnte alte Strategien zurückzugreifen. Das könnte zum Beispiel das noch stärkere Unterdrücken von unangenehmen Gefühlen sein.
Es könnte sich dir eine neue Welt der Beziehungsgestaltung eröffnen, wenn du dich und deine Gefühle ernster nimmst und du Mitgefühl für dich entwickelst.
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