Hallo! Ich bin 22 und studiere momentan (...), was bisher ganz gut läuft. Zuvor habe ich andere Dinge gemacht. (...)
Aber ich bin absolut unglücklich. So unglücklich, dass ich seit Januar plane, im Hörsaalzentrum meiner Uni eine Überdosis zu nehmen. Nicht um zu sterben, sondern um in einem Krankenbett zu landen, „medical attention“ zu bekommen, umsorgt zu werden. Man denke an das Kapitel „Our Lady of the Waiting Room“ aus Speak. Ich habe es im März versucht, wo es aber nicht geklappt hat, ich bin einfach nicht bewusstlos geworden. Und im Sommersemester habe ich es nur wegen etwas, das ich später erklären werde, nicht erneut versucht.
Wenn es meine Schwester, die mir sehr wichtig ist, nicht gäbe, wäre ich völlig einsam. Niemand kümmert sich um mich. Trotz all meiner Bemühungen (...) habe ich keine dauerhaften, „meaningful relationships“. Ich habe keinen „social circle“ oder Freunde. Es scheint einfach unmöglich zu sein. Die Leute, die ich öfter gesehen habe (...) sind einfach so „disconnected“ und desinteressiert. Sie schreiben mir nie, ich schreibe immer oder zumindest habe ich das getan, aber es interessiert sie nicht und ich werde auch nie eingeladen.
Leute sagen immer „Tritt einem Verein bei“, aber es fühlt sich total inauthentisch an, Vereinen nur aus Verzweiflung beizutreten, weil man „socializen“ möchte. Außerdem habe ich bisher das Gefühl bekommen, dass diese Vereine total „insular“ sind. (...) Normalerweise reicht es (...) aus, wenn man fragt, ob man sich zu jemandem setzen darf, um ein Gespräch zu beginnen. Hier konnte ich sogar aktiv weiterfragen, aber wurde mehr oder weniger ignoriert. Alle kannten sich scheinbar schon untereinander und waren aktiv desinteressiert daran, neue Leute kennenzulernen. Es fühlte sich wie ein Mikrokosmos meiner Situation an. Die Leute sind keineswegs unfreundlich oder so, aber integrieren möchten sie einen auch nicht.
Es scheint, als würde es für alle anderen klappen, als könnten alle anderen mühelos „meaningful relationships“ aufbauen – nur ich nicht.
Mein größtes Hobby ist seit Ewigkeiten Journaling (was absolut hilft, aber das hier kann ich nicht wegschreiben), was natürlich kein sehr soziales Hobby ist.
Was mich besonders unglücklich macht, ist, dass ich noch weniger Glück in Bezug auf romantische Beziehungen habe. Ich hatte mit schon 22 noch nie eine Freundin gehabt und schäme mich unglaublich dafür. Ich fühle mich wertlos deswegen. Kein Mädchen hat jemals Interesse an mir gezeigt. Ich fühle mich unsichtbar. Ich habe Angst, dass ich nie jemanden finden werde. Ich finde das super peinlich. Und wieder scheint es so, als würden die meisten Leute mühelos in Beziehungen hineinstolpern. Ich kenne Jungs, die sich getrennt haben und innerhalb von Wochen eine neue Freundin gefunden haben. Oft höre ich Ratschläge wie „Es wird schon irgendwann passieren“ und das ist so frustrierend, weil es einfach nicht passiert und weil die Tatsache, dass es bei mir mit 22 noch nie passiert ist, bei anderen aber viel früher, für mich bedeutet: Es stimmt etwas nicht mit mir. Oh, und dieser Rat oder „Hör auf zu suchen“ (vom gut gemeinten aber absolut nutzlosen Klassiker „geh in ein Tanzverein“ ganz zu schweigen) kommt immer von den erwähnten Leuten, die seit Ewigkeiten in Beziehungen sind und für die das alles ganz natürlich ist.
Ich weiß, das klingt bisher alles unglaublich weinerlich und ich weiß irgendwo auch, dass das ganz objektiv nicht stimmt, aber für mich ist das sehr real und es tut weh.
Nun bin ich auch bisexuell und auf meiner „schwulen Seite“ habe ich mich tatsächlich nie auch nur im Geringsten für meine Unerfahrenheit geschämt, insgesamt fühle ich mich schockierend selbstbewusst und wohl. Aber das löst mein Problem insgesamt auch nich. Und trotz dessen, was man immer hört und medial mitbekommt, gibt es auch nicht so viele schwule/bisexuell Jungs in meinem Alter.
Ich denke nicht, dass ich sozial inkompetent bin. Natürlich bin ich nervös, wenn ich viele neue Leute treffe, aber das ist ja einfach Teil der „human experience“. Alle oben genannten Geschichten (...) liefen wirklich gut, immer viel besser als ich erwartet hatte, und ich lerne allgemein gerne neue Leute kennen, ich höre zu, ich bin „genuinely“ interessiert an anderen und rede nicht nur von mir und vermeide, negativ oder miesepetrig zu sein. Tatsächlich fällt es mir leichter, mit Mädels zu „connecten“, weil die meisten Mädels, die ich treffe, engagiert, neugierig und an einem Gespräch interessiert sind, während Jungs in meinem Alter, bis auf zwei Ausnahmen, alle so extrem desinteressiert und „disconnected“ sind, dass sie scheinbar nicht in der Lage sind, ein Gespräch zu führen, dass länger als zwei volle Sätze geht.
Im März habe ich mich in eine Kommilitonin verliebt. (...) Wir haben viel geredet und sie schien sogar ein bisschen „flirty“ zu sein. Als die Uni im April wieder begann, haben wir uns nach etwa zwei Monaten wieder gesehen und es schien so, als ob die Freude über das Wiedersehen beidseitig wäre. Die nächsten Wochen sahen wir uns dann öfter und es schien gut zu laufen! Mein größter Wunsch war mal nicht „Ich möchte in einem Krankenbett liegen“, sondern „Ich möchte wirklich, wirklich gerne (...) umarmen“. Ich war echt optimistisch gestimmt, mich hat dieses ganze Thema mal nicht belastet und ich fand diesen ganzen Prozess, das Dating, alles aufregend im positiven Sinne! Ich habe sie (...) auf ein Date eingeladen, das auch ganz gut lief; sie sagte, sie wolle das öfter machen! Aber von da an ging es bergab: Sie hat mir nie von sich aus geschrieben und zeigte nicht wirklich Interesse und so habe ich im Juni schließlich aufgehört, das weiter zu verfolgen, weil sie mir selbst für eine Freundschaft viel zu desinteressiert und passiv war.
(...)
Ich habe die Nase voll von all dem. Von der „disconnectedness“, dem Desinteresse und der Einsamkeit. Und ich sehe wirklich keinen Ausweg. Ich will mich nicht umbringen (und wenn ich das täte, wäre es keine Überdosis, sondern etwas grausameres), aber ich weiß auch nicht, was ich stattdessen tun soll. Denn egal, was ich mache, wie viel Mühe ich mir gebe, es bringt alles nichts.
Ich wurde als Kind von meiner Mutter misshandelt und in der Schule gemobbt, hat das etwas damit zu tun? Aber nach dem Abi und dem Wegziehen dachte ich, das ich das das hinter mir hätte, warum muss ich dafür immer noch den Preis zahlen? Was soll ich tun?
Danke fürs Zuhören.
Unsere Antwort
Danke fürs Mitteilen! Ich habe dein Schreiben gekürzt, um deine Anonymität zu wahren.
Zwei Sätze stechen für mich hervor: "Ich weiß, das klingt bisher alles unglaublich weinerlich und ich weiß irgendwo auch, dass das ganz objektiv nicht stimmt, aber für mich ist das sehr real und es tut weh." und "Ich wurde als Kind von meiner Mutter misshandelt und in der Schule gemobbt, hat das etwas damit zu tun?"
Objektiv gesehen läuft in deinem Sozialleben alles normal ab, so wie du das beschreibst. Du bist bis jetzt noch gar nicht sesshaft, und dazu gehört, dass du noch keine wirklich tiefen Beziehungen hast. Deine ersten Erfahrungen mit Daten sind gemischt. Du hast noch keine sexuellen Erlebnisse mit anderen gehabt. Nein – mit all dem bist du mit 22 nicht die Ausnahme.
Aber du stellst dich als Ausnahme hin, als jemand, der nicht dazugehört, und den die anderen letzendlich nicht wollen. Das passt objektiv gesehen nicht. Du siehst gut aus (danke für das Bild), du bist intelligent, und du hast überhaupt keine Probleme, Menschen kennen zu lernen und für dich zu interessieren.
Die Logik liegt für mich nicht in der Gegenwart, sondern in der Vergangenheit. Deine Gedanken an einen Suizidversuch gehen ja in die Richtung "Zuwendung in der Krankheit" finden. So schreibt jemand, der meint, es nicht verdient zu haben, als gesunder Mensch Zuwendung zu bekommen. Und das macht vor dem wenigen, was ich über deine Vergangenheit weiss, Sinn.
Überleg mal: Wie ging es dem Jungen, dessen Mutter ihn misshandelte? Wie ging es ihm, wenn er in der Schule zusätzlich gemobbt wurde? (Ja, wo war da der Vater???) Was machte das mit dem Selbstwertgefühl des Jungen? Was machte er für Lernerfahrungen damit, wie Menschen mit ihm und miteinander umgehen? Was machte es mit seinem Menschenbild? Wie konnte ein Junge, der so missachtet wurde, Achtung vor sich selbst entwickeln? Wie konnte er lernen, sich zu trösten, wenn schlimme Emotionen nicht getröstet, sondern geschürt wurden?
Wegziehen löst uns nicht von dieser Vergangenheit. Das Gehirn und die Seele leiden da noch unter den Folgen. Da gilt es, aufzuräumen zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Mitgefühl für den Jungen zu entwickeln und aus diesem heraus Selbstführsorge und Liebe zu sich selbst. Das sind gute Voraussetzungen für das Eingehen von Beziehungen mit anderen.
Dafür empfehle ich dir eine Jugendberatung oder eine Psychotherapie. Ich vermute, an deiner Uni wird da etwas angeboten.
Ausserdem möchte ich dir den Text "Wie hängen meine Probleme mit meiner Kindheit zusammen?". Darin erhältst du wahrscheinlich noch weitere Denkanstösse.
Freilich kannst du uns auch wieder schreiben. Gib dann bitte die Nummer dieser Frage an.
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