Kann es sein, dass ich ein Trauma habe?
Ich habe eine Mutter, welche an Depressionen leidet aufgrund ihrer schlimmen Kindheit. Sie geht in Therapie, hat jedoch die Erfahrungen nie aufgearbeitet. Als Kind bin ich häufig nur mit meinem Vater in die Ferien gefahren. Meine Mutter hat auch häufig geschlafen.
Sie sagte mir, dass ich als Kind sehr anstrengend war. Ich hätte sie häufig erpresst. Es kann gut sein, jedoch habe ich keine Erinnerungen mehr. Sie sagte auch häufig, ihr sei alles zu viel.
Ich habe teilweise ihre Handlungen und Aussagen nicht verstanden. Ich verspüre heute mit 16 Jahren eine unglaubliche Wut. Ich habe das Gefühl, wenn es ihr schlecht geht ist das okey. Wenn es mir schlecht geht oder als ich Ängste hatte oder eine Depression hiess es nur ich übertreibe.
Ich habe seit meiner Kindheit diesen Schmerz in der Brust. Ich habe häufig geweint. Ich weiss nicht mehr was ich tun kann... Kann es sein das ich ein Trauma habe?
Mir ist heute ebenfalls aufgefallen, wenn ich die Opferrolle meide, dass der Umgang mit mir selber viel viel positiver ist. Was ich zunächst komisch fand, danach als sehr angenehm. Vor allem, weil ich oft zu mir selbst sehr streng bin, doch durch die Meidung der Rolle, habe ich viel mehr Selbstmitgefühl und viel mehr Hoffnung für die Zukunft bekommen. Ist das normal?
Ich wollte mir auch ein bisschen von der Seele schreiben. Danke, dass es euch gibt :-)
Freue mich schon auf eure Antwort und bis dahin!
Unsere Antwort
Ja, du hast in deiner Kindheit traumatische Erlebnisse gehabt. Zum einen ist es schlimm für ein Kind, wenn die Mutter so viel abwesend war. Da ist schon mal "zu wenig Mutter" da. Und das ist bedrohlich. Zum anderen hatte (und hat) sie ein Verhalten und eine Haltung dir gegenüber, die für dich schlimm war und ist:
- Du warst ihr zuviel. Ein Kind sollte einfach sein dürfen.
- Wenn es einem Kind schlecht geht, sollte es getröstet werden und nicht hören, dass es übertreibt.
- Sie hat dir Motive zugeschrieben, die man einem Kind nicht zuschreiben sollte: Du habest sie erpresst. Was meint sie damit? Es kann schon sein, dass Kinder Grenzen austesten und anstrengend sind. Aber es ist die Aufgabe der Eltern, Grenzen zu setzen und die Kinder zu erziehen. Es ist nicht die Aufgabe der Kinder, ihre Eltern zu schonen. Es klingt so, als habe deine Mutter dich als Täter*in gesehen, der*die gegen sie war. Da hat sie sicherlich etwas in dich projeziert, was mit dir nichts zu tun hat, sondern mit ihrer eigenen Vergangenheit.
Ich bitte dich, dazu diesen Text darüber zu lesen, wie Eltern ihren Kindern nicht gut tun. Du wirst deine Mutter da in einigem wiedererkennen. Möglicherweise auch deinen Vater, der sich besser gegenüber deiner Mutter für dich hätte einsetzen können.
Tatsache ist: Als Kind hast du unglaublich gelitten. Ich verstehe da deine Wut auf deine Mutter. Ich finde die Wut eine gesunde Energie, die dir helfen kann, dich von deiner Mutter zu emanzipieren und dich für dich selbst und dein Wohlergehen einzusetzen. Ich verstehe auch den Schmerz und das Weinen. Das Leiden ist echt.
Wie gehst du damit um? Du schreibst etwas Interessantes zum Thema Opferrolle. Opfer zu sein heisst hilflos zu sein. Opfer zu sein heisst keine Verantwortung übernehmen. Da ist die Haltung viel besser: "Okay, ich bin in der Situation in der ich bin, ich muss das beste draus machen und schauen, was ich unternehmen kann, dass es mir besser geht – nur ich allein kann das". Diese Selbstverantwortung ist genau die Haltung, die dir hilft, dich zu emanzipieren und für dein Wohlergehen einzusetzen. So gesehen passt es, wenn du schreibst, dass du so mehr Selbstmitgefühl und Hoffnung in die Zukunft bekommen hast.
Allerdings sollte auch das Weinende, Trauernde, Ängstliche in dir Platz haben. Du wirst jetzt langsam erwachsen. Es geht darum, dass du lernst, dich als erwachsene Person um deine eigenen "schwachen" Anteile zu kümmern. Das heisst unter anderem, dass du das weinende kleine Kind in dir in den Arm nimmst und ihm gut zuredest und es tröstest und ihm sagst: "Es ist vorbei, ich kümmer mich jetzt um dich".
Das ist leichter gesagt als getan. Ich finde, du bist ein*e richtige*r Überlebenskünstler*in. Möchtest du dir nicht Unterstützung durch eine Fachperson holen, die dir bei der Heilung und Emanzipation hilft? Du könntest dich zum Beispiel bei einer Jugendberatungsstelle melden und mit den Leuten dort besprechen, was es für Möglichkeiten der Beratung gibt.
Du kannst uns auch gern wieder schreiben. Gib dann bitte die Nummer dieser Frage an.
Diese Antwort gilt auch für Frage 39179 und 39206.
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