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Bin ich zugewandt? Kritisch? Ängstlich? abgelöscht?

Wie begegnest du dir selbst und anderen Menschen? Bist du offen und zugewandt? Oder bist du kritisch und abwertend? Oder angstvoll? Hilflos? Abgelöscht? All diese Zustände lassen sich gut mit deinem autonomen Nervensystem erklären.

Was ist das autonome Nervensystem (ANS)?

Wir empfehlen dir, dass du zuerst diesen Text liest, dann verstehst du besser, wovon wir hier reden.

Unsere Nerven wollen uns uns in Sicherheit bringen

Je nachdem, welche Nerven unseres ANS aktiv sind, erleben wir uns ganz unterschiedlich im Umgang mit uns selbst und anderen Menschen. Das hat eine uralte Geschichte: Denn eigentlich ist das ANS dazu da, uns in Sicherheit zu bewahren oder in Sicherheit zu bringen. Hier haben der Sympatkius, der dorsale Vagus und der ventrale Vagus unterschiedliche Funktionen.

Sympatikus: Kampf-Flucht-Reaktion

Stell dir vor, du bist ein Steinzeitmensch. Du streifst durch die Steppe. Und plötzlich hörst du etwas knurren. Jetzt wird dein Sympathikus aktiv: Du zuckst zusammen, der Puls steigt, der Blutdruck steigt. Du blickst schnell um dich, um die Situation einzuschätzen. Wenn du ein kleines Tier siehst, was dir ins Bein beissen möchte, schlägst du wahrscheinlich mit deinem Faustkeil zu. Du erlebst dann Wut oder Aggression. Wenn es ein riesengrosser Säbelzahntiger ist, rennst du so schnell du kannst. Du erlebst dann Angst.

Man nennt das die «Kampf-Flucht»-Reaktion (Vielleicht kennst du auch das Englische «Fight or flight reaction»). Wenn du im Stress bist – egal ob das eine echte Gefahr oder stressige Gedanken, viel Arbeitsstress oder Ärger in der Beziehung ist –, wird dein Sympathikus sehr aktiv. Typisch hierfür ist zum Beispiel:

  • Du bist angespannt und atmest rasch und eher flach.
  • Du erlebst Angst oder Wut oder Ekel – lauter Gefühle, die zeigen, dass hier was nicht stimmt.
  • Du denkst schnell und in einfachen Bahnen und sehr wertend ("gut oder böse?" "sicher oder unsicher?" "kämpfen oder fliehen?"). Für genaue Analysen hast du jetzt keine Zeit.
  • Du grübelst ganz schnell, du hast rasende Gedanken. Dein Grübeln bringt dich nicht auf einen grünen Zweig. Dein Gehirn ist nämlich nicht so gut durchblutet: Das Blut ist jetzt vor allem in deinen Armen und Beinen, damit du kämpfen oder fliegen kannst.
  • Du siehst überall Feinde, du bist darauf eingestellt, dass die Leute Böses antun wollen. Das Gefühl hast du auch gegenüber Menschen, die dir sonst sehr nahe sind.
  • Du bewertest Menschen. Sind sie schlechter als du? Sind sie besser als du?
  • Wenn du über dich selbst denkst oder in den Spiegel kuckst, wertest du dich möglicherweise ab. Du wirst sozusagen dein eigener Feind.
  • Du hörst jetzt besonders gut hohe, schrille Töne oder ganz tiefe, dumpfe. Menschliche Stimme verstehst du nicht so gut. In einem Streit kriegst du nicht so gut mit, was die andere Person sagt.
  • Du bist im Konflikt nicht an Problemlösung interessiert sondern daran, Recht zu haben und den anderen "zu besiegen".

Jede*r von uns kennt das. Unser Alltagsstressoren sind einfach so häufig, und Beziehungskrach kennen wir auch alle. Nicht wenige von uns sind sogar dauerhaft eher angespannt und haben ständig eine Haltung, die geprägt ist von hoher Aktivierung des Sympathikus. Gerade wenn wir als Kinder nicht sicher waren, haben wir uns möglicherweise eine Dauerspannung als Schutzhaltung angewöhnt.

Dorsaler Vagus: totstellen und wegtreten

Angenommen nochmal, du bist ein Steinzeitmensch. Du hast es tatsächlich, dummerweise, mit einem Säbelzahntiger zu tun. Du rennst also, so schnell du kannst. Vielleicht hast du Glück und entwischst. Sehr gut möglich aber, dass der Tiger schneller ist als du. Irgendwann greift er dich. In dem Augenblick passiert bei dir möglicherweise was Eigenartiges: Du fühlst dich plötzlich ganz schlapp – genau genommen, du fühlst eigentlich gar nicht mehr viel. Es kann sogar sein, dass du in Ohnmacht kippst. Dein Körper erschlafft in diesem Augenblick tatsächlich.

Warum? Dein dorsaler Vagus ist blitzschnell sehr aktiv geworden, der Sympathikus ist jetzt kaum noch aktiv. Dein ganzes System fährt sozusagen runter. Du bist völlig schlaff. Der Säbelzahntiger wundert sich kurz und lässt dich dann angewidert fallen: So ein lebloses Ding ist keine gute Mahlzeit. Er will was fittes, das sich wehrt. Gelangweilt schlendert er von dannen. Du bleibst eine Weile liegen und kommst dann ganz allmählich wieder zu dir. Dein Sympathikus wird wieder aktiv. Du kannst wieder was tun. "Flucht!" denkst du. Du schleichst dich so schnell wie möglich davon.

Wenn der Sympathikus dich Steinzeitmenschen nicht vor dem Säbelzahntiger retten konnte, so konnte es der dorsale Vagus. Vielleicht kennst du den Begriff "sich totstellen". Alles fährt runter. Du kannst nichts mehr machen, du spürst nicht mehr viel, du erlebst in dem Augenblick vielleicht ganz wenig. Das ist ein uralter Mechanismus, der uns in Lebensgefahr hilft. Auf englisch nennt man das "dorsal vagal shutdown" – ein dorsovagales Abschalten.

So kann sich dieses Abschalten anfühlen:

  • Du bist schlaff und atmest sehr schwach. Du fühlst dich erschöpft und müde.
  • Du fühlst dich (gefühls-)leer und bist nicht so ganz da. Man nennt das auch Dissoziation. Es kann dabei auch sein, dass du kaum Schmerzen wahrnimmst.
  • Die Welt erscheint unwirklich. Im Fachsprache gibt es dafür den Derealisation. Es kann auch sein, dass du wie von aussen auf dich schaust. Man nennt das auch Depersonalisation.
  • Deine Gedanken sind langsam und nicht zielführend. Du kannst dich schlecht konzentrieren und schlecht entscheiden. Vielleicht kennst du dazu auch den Begriff "brain fog" ("Hirnnebel").
  • Du fühlst dich hilflos und ohnmächtig.
  • Du hast Blackouts und fällst vielleicht sogar in Ohnmacht.
  • Beim Kippen aus der sympathischen Aktivierung in das dorsovagale "Loch" kann es selten auch zu Anfällen kommen, wo du deinen Körper nicht mehr im Griff hast. Das nennt man auch psychogene nicht-epileptische Anfälle (PNEA).

Dieser Zustand hilft, Situationen besser zu überleben, wo wir uns nicht mehr wehren können. Gerade wenn uns Gewalt angetan wird, ist das relativ häufig. Viele fragen sich zum Beispiel nach einem sexuellen Übergriff: "Warum habe ich mich nicht gewehrt?" Ganz einfach: Sie konnten nicht, weil die Rettungsstrategie des dorsalen Vagus "totstellen!" war.

Es kann auch vorkommen, dass der dorsale Vagus über längere Zeit ziemlich aktiv ist. Zum Beispiel wenn wir in einer ausweglosen Lage sind oder das Leben uns überfordert. Wir erleben uns dann niederschlagen, hilflos und ohnmächtig. Vielleicht sind wir in einer richtigen Depression. Nichts mehr geht so richtig.

Sympathikus + dorsaler Vagus: angespannte Lähmung

Möglich ist auch, dass der Sympathikus und der dorsale Vagus gleichzeitig aktiv sind. Das ist sehr unangenehm: Du bist im Zustand der höchsten Anspannung, erlebst intensive negative Emotionen – und gleichzeitig bist du erstarrt und wie gelähmt. Auch das kann bei grosser Gefahr oder dem Erleben von Gewalt passieren. Es kann auch in von aussen gesehen nicht so gefährlichen Situationen passieren – zum Beispiel wenn du vor einer Gruppe von Leuten stehst und ein Referat halten musst – und nichts geht mehr.

Möglich ist auch, dass der Sympathikus und der dorsale Vagus abwechselnd aktiv werden: Du bist total angespannt und im Stress, und dazwischen schlaff und wie ausgebrannt und leer und depressiv. Auch das ist ein Zustand, der nicht so selten ist, wenn du in der Kindheit sehr schwierige/schlimme Dinge erlebt hast.

Ventraler Vagus: offen und sozial

Angenommen, du bist ein Steinzeitmensch. Du bist mit dem Speer auf der Pirsch. Du erblickst eine Gazelle. Dann siehst du deinen Nachbar. Er will die gleiche Gazelle erlegen wie du. Ihr habt beide Hunger. Wenn jetzt gleich der Kampf-Flucht-Modus einsetzen würde, würdet ihr miteinander kämpfen und die Gazelle würde locker von dannen traben. Ihr würdet beide hungrig bleiben.

Als Menschen haben wir zum Glück eine andere Strategie, mit diesem Problem umzugehen: Wir können sozial und nett miteinander sein. Du ziehst die Augenbrauen hoch und flüsterst "Hungrig, Nachbar?" Er nickt, mit einer leidenden Miene: "Ich auch." Ihr blickt einander mitfühlend an: "Dann lass uns zusammenspannen und die Gazelle halbieren", flüssterst du. Und gemeinsam erlegt ihr die Gazelle. Ihr plant, fortan miteinander auf die Jagd zu gehen – so könnt ihr einander beschützen und erwischt mehrere Tiere.

Damit derart soziales Verhalten möglich wird, braucht es Aktivität des ventralen Vagus. Da passiert bei dir folgendes:

  • Du bist eher locker und entspannt, du atmest eher tief.
  • Deine Ohren sind auf menschliche Stimmen eingestellt.
  • Deine Stimme ist nicht gepresst oder schrill, sondern sie hat einen leichten Singsang. Prosodie nennt man das auch.
  • Du hast eine offene, interessierte Haltung gegenüber anderen Menschen oder dir selbst.
  • Du empfindest freundschaftliche oder liebende Gefühle gegenüber anderen Menschen oder dir selbst.
  • Du kannst jetzt kreativ und vernetzt denken. Dein Gehirn ist gut durchblutet.
  • Du bist in Konflikten offen für Lösungen und wirklich daran interessiert, Probleme zu lösen.

Wenn du das so durch liest, denkst du wahrscheinlich: "o. k. davon will ich mehr". Es stimmt tatsächlich, dass es uns in den meisten Alltagssituationen gut tun würde, wenn der ventrale Vagus aktiver wäre. Er ist so wichtig für das soziale Miteinander, dass er auch "sozialer Vagus" heisst.

Sympathikus + ventraler Vagus: aktiv und sozial

Es gibt Situationen, wo der Sympathicus und der ventralen Vagus gleichzeitig aktiv sind. Zum Beispiel im Spiel: Eigentlich ist man im Spiel Gegner, aber trotzdem ist ein Miteinander. Man ist vielleicht im Wettkampf, und gleichzeitig hat man Spass miteinander. Man will einander besiegen, aber man lacht trotzdem miteinander. Auch im Sport, wenn er Spass macht, sind Sympathicus und ventraler Vagus gleichzeitig aktiv. Oder wenn man bei der Arbeit Spass hat. Oder vor einer Gruppe Leute einen mitreissenden Votrag hält.

Der Mix aus Sympathikus und ventraler Vagus heisst also: aktiv und gleichzeitig gut drauf und sozial.

Dorsaler Vagus + ventraler Vagus: wohlig entspannt

Auch der Mix aus dorsalem und ventralen Vagus fühlt sich gut an: Stell dir vor, du kuschelst nach dem Sex mit deinem Liebsten*deiner Liebsten. Du bist so richtig wohlig faul und willst überhaupt nicht aufstehen. Ein sehr angenehmer Zustand. Oder du bist nach einem dicken Essen so richtig satt und liegst sehlig grinsend im Stuhl. Oder du liegst in der Sonne oder meditierst und findest, du seist mit dir und der Welt im Frieden. Oder du bist kurz vor dem Einschlafen und fühlst dich so richtig geborgen.

Der Mix aus dorsalem und ventralem Vagus heisst: Tiefenentspannung mit guten, intimen Gefühlen.

Das autonome Nervensystem und Sex

Beim Sex brauchen wir eine gute Dosis Sympathikus, damit die sexuelle Erregung zu einem Orgasmus ansteigen kann. Viele von uns haben dementsprechend in hoher Spannung Sex und sorgen so dafür, dass der Sympathicus stark angeregt wird. Wir sind beim Sex sozusagen im Kampf-Flucht-Modus. Das hat grossen Einfluss darauf, wie wir uns und die andere Person beim Sex erleben. Mehr dazu erfährst du in diesem Text. Es kann auch sein, dass du dann nach dem Orgasmus in ein Loch kippst mit viel Aktivität des dorsalen Vagus und kaum Aktivität des ventralen Vagus. Du fühlst dich dann vielleicht leer oder sogar etwas depressiv.

Wie beeinflusse ich mein autonomes Nervensystem?

Du fragst dich jetzt vielleicht: "Schön und gut, aber was hilft mir das, wenn ich mein autonomes Nervensystem besser verstehe?" Ganz einfach: Wenn du es besser verstehst, kannst du es besser beeinflussen. Du kannst etwas dafür tun, dass du nicht vor lauter Sympathikus-Aktivierung durch die Decke gehst oder in einer Panikattacke landest. Du kannst etwas dafür tun, dass du aus einem abgelöschten Loch herauskommst. Du kannst etwas dafür tun, dass du mit einer guten Dosis ventralem Vagus gelassener, fröhlicher, offener wirst, dich selbst mehr magst und besser mit anderen Menschen umgehen kannst. Tipps dazu findest du in diesem Text.