Ich und die anderen / Wie komme ich mit mir und anderen besser klar?:
Hier erfährst du, wie du dein autonomes Nervensystem beeinflussen und besser in den Griff bekommen kannst – um dich zu beruhigen, besser in Beziehung zu sein und auch um den Sex mehr zu geniessen. Lies auch nach, wie andere Menschen dein Nervensystem beeinflussen können – und umgekehrt.
Warum ist das autonome Nervensystem (ANS) wichtig?
Wenn du ihn noch nicht gelesen hast, lies bitte diesen Text über das autonome Nervensystem, damit du weisst, wovon hier die Rede ist. Es lohnt sich, wenn du ein bisschen Bescheid weist über dein autonomes Nervensystem, denn es kann schnell aus dem Gleichgewicht kommen: Es kann schnell passieren, dass der Sympathikus überschiesst und du in einem Zustand von Stress, Wut oder Angst kommst. Und es kann auch schnell passieren, dass du in einen Zustand von Hilflosigkeit, Leere, Niedergeschlagenheit oder Antriebslosigkeit landest, der mit einer starken Aktivierung des dorsalen Vagus einhergeht.
Da ist es gut, wenn du weist, wie du es wieder ins Gleichgewicht bringst. Die wichtiste Frage dabei ist: Wie kriegst du so oft wie möglich eine gute Dosis ventraler Vagus hinein?
Welche Rolle spielt der Körper?
Der Körper spielt eine sehr grosse Rolle. Es gibt Studien, die zeigen, dass Menschen in verschiedenen körperlichen Zuständen sich selbst und die Welt ganz anders erleben. Das Nervensystem liest das, was es im Körper erlebt, und schliesst daraus, ob du in Sicherheit oder Gefahr bist. Hierzu ein paar Beispiele:
- Wenn du die Muskeln anspannst und schnell atmest, triggert das den Sympathikus, so dass du eher mit Angst, Wut, Wachsamkeit, und noch mehr Anspannung reagierst.
- Wenn du dich schlaff machst oder zusammenkauerst und den Kopf hängen lässt, triggert das den dorsalen Vagus, und du kommst in einen Zustand von Leere oder Niedergeschlagenheit, Lustlosigkeit und Passivität.
- Wenn du deinen Oberkörper und deinen Kopf bewegst, tief atmest und lächelst, triggert das den ventralen Vagus, und du wirst lockerer und heiterer und zuversichtlicher.
Probieren geht über Studieren. Es ist sehr spannend, das mal genauer zu beobachten. Dazu ist auch der Text Wie beeinflusse ich meine Stimmung über den Körper interessant.
Wie beruhige ich mich?
Wenn dein Sympathikus überschiesst, kannst du das auf verschiedene Weise angehen. Es ist sicher eine gute Idee, wenn du dich bewegst und so Dampf ablässt. Zur ganz schnellen Beruhigung gibt es auch einen Atmungstipo: ganz lang ausatmen. So lang bis nichts mehr raus geht. Wenn du wirklich ganz leer bist, lass die Luft wieder reinströmen. Mach das ein paar mal hintereinander. Warum Ausatmen so wichtig ist, erfährst du in diesen Tipps.
Weitere Tipps zur Selbstberuhigung findest du in diesem Text.
Wie erwecke ich mich wieder zum Leben?
Wenn dein dorsaler Vagus überschiesst und du in einem Loch aus "nichts geht mehr" bist, hilft auch Bewegung.
Angenommen du sitzt da und nichts geht mehr. Dann hilft es schon, wenn du deine Finger oder Zehen abwechselnd ausstreckst und zusammenrollst. Wenn du das ein Weilchen gemacht hast, kannst du das Unterbein oder den Unterarm auf und ab bewegen. Und schliesslich beide Arme über dir Kreisen. Und dann aufstehen. Herumgehen. Mit den Füssen herumstampfen. Zunge rausstrecken und Bää sagen. Dich dehnen, strecken, hüpfen... Wahrscheinlich wirst du merken, dass du dich dann aktiver fühlst und nicht mehr so hilflos.
Auch eine aktivierende Atmung kann helfen, dich aus dem Loch herausziehen. Dafür empfehlen wir dir diese Tipps.
Wie aktiviere ich den ventralen Vagus?
Um mit uns selbst und anderen besser klar zu kommen, brauchen wir zu allem dazu eine gute Dosis ventralen (sozialen) Vagus. Der wird zum Beispiel durch Bewegung im Oberkörper oder Bewegung des Kopfes oder Nackens aktiviert. Lächeln hilft auch. Was du auch tun kannst: summen, singen, dich selbst massieren, lachen, gurgeln, spielen, heiss baden, kalt duschen oder dein Gesicht in kaltes Wasser tauchen, dich bewegen, tanzen, in die Natur gehen, fernöstliche Praktiken wie Qi Gong, Tai Chi, Yoga und Meditationen machen, deine Augen bewusst bewegen. All das aktiviert den sozialen Vagus.
Ganz wichtig ist auch eine tiefe Bauchatmung, wie wir das in diesem Text beschreiben. Hier ist dazu eine kleine Übung: Nimm mal etwas, das sehr gut riecht. Halte es an deine Nase. Und dann atme den Duft ein. So richtig tief. Und dann atme wieder aus. Dieses genüssliche "mmmmm"-Einatmen aktiviert den ventralen Vagus. Vielleicht gelingt es dir auch, dir einfach vorzustellen, du atmest jetzt gerade den Duft frischer Erdbeeren ein, oder deines Lieblingskuchens, des Meers oder von etwas anderem, das du wirklich magst.
Wie reguliere ich mein Nervensystem beim Sex?
Damit du beim Sex die Erregung steigern kannst, muss der Sympathikus aktiv sein. Wenn du gleichzeitig angenehme Gefühle und Liebe erleben willst, brauchst du zusätzlich eine gute Dosis ventraler Vagus. Hierbei hilft es, wenn du die sexuelle Erregung mit viel Bewegung und einem Wechselspiel aus Anspannung und Entspannung steigerst. Dazu findest du auf dieser Website viele Tipps. Der wichtigste ist dieser Text über Bewegung des Oberkörpers beim Sex.
Es kann sein, dass du bei Sex die "passive" Rolle einnimmst und auf dem Rücken liegst. Dein Partner*deine Partnerin ist eher mit viel sympathischer Aktivierung unterwegs. Möglicherweise können dann unangenehme Gefühle von Ohnmacht und Opfersein auftreten – obwohl dein*e Partner*in dir eigentlich überhaupt nicht an den Kragen möchte. Dein dorsaler Vagus ist dann sehr aktiv. Auch hier ist es hilfreich, wenn du beim Sex eine bewegte Rolle einnimmst, so dass du nicht in dieses "Loch" kippst – oder damit du wieder rauskommst.
Was wenn andere mich stressen?
Du und dein autonomes Nervensystem reagiert sehr schnell auf das, was bei einer anderen Person und ihrem Nervensystem abgeht.
- Wenn eine Person dir gegenüber sitzt, die sehr angstvoll oder sehr wütend ist (hohe Sympathikus-Aktivierung), dann wird dein Sympathikus ganz automatisch aktiver. Du wirst möglicherweise selbst ängstlich oder wütend, oder du probierst die Person zu beschwichtigen. Eigentlich ist das eine Strategie, in deinem eigenen Nervensystem wieder Ruhe herzustellen.
- Wenn eine Person dir gegenübersitzt und total schlapp und lustlos oder niedergeschlagen ist (starke Aktivierung des dorsalen Vagus), dann zieht dich das möglicherweise selbst runter. Oder du reagierst gereizt oder wütend oder zappelig – jetzt steuert dein Sympathikus ganz automatisch dagegen, dass du in ein Loch kippst.
Wenn du spürst, dass du einen unangenehmen emotionalen Zustand kriegst oder der andere Person nicht mehr ganz wohlgesonnen bist, helfen all die Empfehlungen zur Selbstberuhigung oder Beeinflussung der Stimmung mit dem Körper, dass du dich nicht so weit runterziehen lässt.
Wie kann mich eine andere Person unterstützen?
Wenn eine Person dir offen, zugewandt und mitfühlend gegenüber sitzt (starke Aktivierung des ventralen Vagus), dann kann es sein, dass du selbst aus einem Zustand der Anspannung (starke Sympathikus-Aktivierung) oder Niedergeschlagenheit (stark Aktivierung des dorsaler Vagus) herauskommst, weil dein Nervensystem die Ausstrahlung der anderen Person spürt und sich beruhigt (mehr Aktivierung des ventralen Vagus).
Das heisst: Wenn dich eine andere Person tröstet oder beruhigt, dann beruhigt ihr Nervensystem sozusagen dein Nervensystem. Es fühlt sich wieder in Sicherheit. Man nennt das auch Ko-Regulation. Für Kinder ist es ganz wichtig, dass sie das erfahren. Sie lernen dann, dass unangenehme Zustände vorbeigehen können und dass nach gefühlter oder echter Gefahr wieder Sicherheit eintritt.
Vielleicht hast du davon zuwenig bekommen. Vielleicht haben dich Personen nicht genug getröstet und beruhigt. Dein Nervensystem fühlt sich möglicherweise dauernd in Gefahr. Du bist eher wachsam und misstrauisch, und es fällt dir vielleicht schwer, zu sehen, dass es Menschen gut mit dir meinen. Es ist umso wichtiger, dass du lernst, dich selbst zu beruhigen und zu zu trösten. Und wir empfehlen dir auch diesen Text darüber, wie Kinder sich an stressige Zustände im Elternhaus anpassen.
Wie kann ich eine andere Person unterstützen?
Was andere mit dir können, kannst du auch mit anderen: sie trösten und beruhigen und ihr helfen, aus einem unangenehmen Zustand herauszukommen. Dazu brauchst du eine gute Dosis innerer Ruhe und Stärke, die mit einer Aktivierung des ventralen Vagus einhergeht. Die hilft dir, ruhig zu bleiben oder ruhig zu werden, obwohl beim Gegenüber die Hölle los ist.
Dazu ist es wichtig, dass du übst, dein autonomse Nervensystem selbst zu regulieren. Diese Selbstregulation in Beziehungen ist etwas vom Schwierigsten, denn andere Personen, die uns nahe sind, können uns und uner Nevensystem schnell aus dem Gleichgewicht bringen. Wir können es immer wieder probieren und üben – und uns immer wieder freuen, wenn es uns gelingt.
Wo finde ich weiterführende Tipps?
Wir empfehlen dir folgende Tipps auf Lilli:
- Wie beruhige ich mich selbst?
- Wie beeinflusse ich meine Stimmung über den Körper?
- Bauchatmung belebt und beruhigt
- In deine Kraft kommen mit Bauchatmung
- Gute Gefühle beim Sex durch Bewegung des Orberkörpers
Wir empfehlen dir auch das Buch "Leben mit der Polyvagaltheorie: In Sicherheit verankert" von Deb Dana. Das ist voll praktischer Tipps, wie du dein autonomes Nervensystem besser kennen lernen und regulieren kannst, und wie du zu mehr Aktivierung vom ventralen Vagus kommst.
Unter „Vagusnerv-Übungen“ findest du viele weitere Videos auf Youtube und auch Podcasts und Blogbeiträge.